Liebe Julia!

Ein Brief an die Sophie-Scholl-Darstellerin Julia Jentsch. von florian scheibe

Nun stehst du da oben, mit dem silbernen Bären, der dir fast aus den Händen gerutscht wäre, und zeigst dein schräges, nervöses, immer auch ein bisschen verrücktes Lächeln. Ein wenig peinlich berührt. Ein wenig fehl am Platze, in deinem schwarzen Sakko mit dieser riesigen schwarzen Brosche, neben dem fröhlichen Dieter mit seinem runden Sandkastengesicht und seinen hektisch fuchtelnden Händchen. Mensch, Julia! So schnell kann es gehen im Leben. Jetzt bist du also angekommen, Meilen von mir entfernt, in einem Blitzlichtgewitter, entrückt, in einer anderen Welt.

Vor fünf Jahren, da war noch alles anders. Da saßen wir noch gemeinsam in der Berlinale, unten im Parkett. Jung und aufstrebend. Zwei von vielen und weit vom Rot des Teppichs entfernt.

Damals, da war ich für drei Wochen dein Regisseur, und du warst meine Schauspielerin.

Eine kleine Video-Übung, eine Passage aus »Wer hat Angst vor Virginia Woolff?«, DFFB meets Ernst Busch, Filmhochschule trifft Schauspielausbildung. deine erste Erfahrung mit einer Kamera, meine erste mit einer angehenden Schauspielerin.

Zwei Wochen habe ich gemeinsam mit dir und den drei anderen Schauspielschülern geprobt, entwickelt, ausprobiert, verworfen, gelitten und wieder von vorne begonnen.

Und weißt du noch, wie wir schließlich in meinem Auto saßen, zu zweit, abgedreht und glücklich, es war Nacht und kalt, und ich zu dir gesagt habe, Julia, also jetzt nichts gegen die anderen, aber du wirst es schaffen, du kannst mal eine Große werden, eine wirklich Große, meine ich. Und ich erinnere mich noch, wie du mich damals angesehen hast mit deinem unsicheren und flackernden Blick und gemurmelt hast, Danke, Danke hast du gemurmelt, aber so weit bin ich, glaube ich, noch lange nicht, ganz leise und brüchig und unsicher.

Danach haben sich unsere Wege getrennt. Du hast dein Engagement an den Kammerspielen bekommen, erste Hauptrollen, bekannte Regisseure, Nachwuchsschauspielerin des Jahres in Theater Heute, Filmrollen folgten, und aus dem gefeierten Theater-Star wurde die Nachwuchshoffnung des deutschen Kinos.

Und eines Tages habe ich mich von Berlin aus auf den Weg nach München gemacht, um dich einmal sehen zu können, dort oben, auf den Brettern, die die Welt bedeuten.

Und am Bahnhof habe ich dir eine viel zu teure Blume gekauft und eine Postkarte, die für den kleinen, poetischen Gruß bestimmt war, den ich die ganze Zugfahrt über in meinem Kopf formuliert, verworfen und wieder neu formuliert hatte.

Nach fünf Stunden »Orestie« war ich begeistert, weggeschwemmt und hingerissen, deine Elektra war schlicht berauschend, und ich habe geklatscht, bis mir die Hände weh taten.

Und kurz bevor ich dann nach der Vorstellung diese Karte und die viel zu teure Blume für dich beim Pförtner abgegeben habe, habe ich unten an den Rand noch meine E-Mail-Adresse notiert und direkt daneben geschrieben: »Mensch Julia, meld’ dich doch mal.«

Und die Wochen sind verstrichen und wurden zu Monaten und nichts geschah, und ja, Julia, ich muss ganz offen zugeben, dass ich ein wenig enttäuscht war. Denn schließlich hätte ich nicht viel erwartet von dir, nur eine kleine Zeile vielleicht, ein kurzes »Hallo«, einfach ein Zeichen, dass du dich noch erinnerst an mich.

Und vielleicht muss ich deshalb gerade jetzt, in diesem Moment, in dem dir der kleine, massive Bär fast aus Händen gleitet und du dein schräges Lächeln lachst, auf dem Gipfel deines Erfolgs, dem Thron der europäischen Schauspielerinnen, auch an die Schattenseiten deiner blühenden Karriere, oder lass es uns ruhig beim Namen nennen, an deine Sünden denken.

So muss ich daran denken, wie es mir einen Stich ins Herz versetzt hat, als ich dich kurz nach diesem denkwürdigen Theaterbesuch in München in einer Episodenhauptrolle in »Praxis Bülowbogen« an der Seite von Günther Pfitzmann im Vorabendprogramm erleben musste, und wie erschüttert ich war, als du in dem ZDF-Film »Und die Braut wusste von nichts« unter der quotenträchtigen Regie von Rainer Kaufmann eine Braut gegeben hast, die die ganze Zeit über irgendwelche Türschwellen stolperte, und wie schwer es mir fiel zu glauben, dass du tatsächlich eine Hauptrolle in dieser ZDF-Serie mit dem unsäglichen Titel »Die Verbrechen des Dr. Capellari« angenommen hast, die ihr Zielpublikum vornehmlich aus pensionierten Gymnasiallehrern und alleinstehenden Arztwitwen rekrutiert.

Und dabei, liebe Julia, muss ich dir sogar zugestehen, dass all diese Rollen noch von einer gewissen künstlerischen Sensibilität zeugten im Gegensatz zu deiner Entscheidung, die Hauptfigur in dem Sat-1-Movie mit dem Titel »Erpressung – Ein teuflischer Pakt« zu verkörpern, direkt an der Seite von Uschi Glas (Ja, liebe Julia, tatsächlich die gleiche Uschi Glas, die, die sich nackt in einer großen Zeitschrift ablichten lässt, damit sie sich anschließend angezogen zwei Monate lang Arm in Arm mit ihrem neuen Freund beim täglichen Spazierengehen fotografieren lassen kann).

Aber ehrlich gesagt, all das hätte ich dir noch verzeihen können. Denn das, was mich wirklich beschäftigt, ist nicht der Pragmatismus einer jungen, aufstrebenden Schauspielerin, die ja irgendwie die Raten für ihren Bausparvertrag und ihre Lebensversicherung aufbringen muss, sondern die Tatsache, dass du es im letzten Jahr tatsächlich geschafft hast, für ausnahmslos jede der vier mit Abstand unerträglichsten deutschen Kinoproduktionen dein Gesicht in die Kamera zu halten.

Dabei verdränge ich einfach mal diese miese kleine Nebenrolle als junge Frau, die sich als Sekretärin bei Hitler bewirbt in Eichingers Kino-Verbrechen »Der Untergang« und sage mir, dass ich erst später ins Kino gekommen bin, nachdem du schon wieder runter warst von der beschmutzten Leinwand, lösche also diese Figur aus deiner Vita und tue so, als habe sie nie gegeben – vergeben, vergessen, vorbei.

Und sogar bei deiner maßgeblichen Mitwirkung in Hans W. Geißendörfers »Schneeland – Liebe ist stärker als der Tod«, einem filmischen Konvolut, gegen das selbst die faschistischen Bergfilme von Luis Trenker wirken wie eine Raufasertapete gegenüber einer Felswand, bin ich bereit, auf mildernde Umstände zu plädieren: Schließlich wurde der Film von der Kritik und den Zuschauern bereits gebührend abgeurteilt, und die Tatsache, dass du auf dem Plakat mit dem blauen Kopftuch und dem in die Ferne schweifenden Blick genau so aussiehst wie Kristina Söderbaum in Veit Harlans Durchhalte-Epos »Kolberg«, ist doch eigentlich schon Strafe genug.

Aber dass du es tatsächlich gewagt hast, in der reformistischen Anarcho-Schmonzette »Die fetten Jahre sind vorbei« von dem österreichischen Almöhi Weingartner Hans eine flugblattverteilende Attac-Anhängerin zu geben, das kann ich dir beim besten Willen nicht verzeihen. Denn es ist nicht nur so, dass es sich bei diesem Machwerk um einen insgesamt unübertroffen naiven, dummen und unglaubwürdigen Film handelt, sondern dass gerade deine Figur, die Jule, mit ihrem hilflosen Versuch, die sinnstiftende Brücke zwischen engagierten Waldorfschülern, 13jährigen Bravo-Girl-Lesern und Emma-Redakteurinnen zu schlagen, in ihrer schleimigen Widerwärtigkeit selbst im jüngeren deutschen Film kaum zu übertreffen ist.

Aber gerade, als die unerträgliche Bilderflut von dir in dem labbrigen T-Shirt und der abgetragenen Jeans vor dieser ach so autonomen Handmalfarben-Wand ein wenig abgeebbt war, hast du es tatsächlich geschafft, noch mal eine Schippe darauf zu legen.

Denn nun bist du das kleine, reine deutsche Vorzeigemädchen geworden, mit dem glatten braungefärbten Haar und den Initialen S.S. im singenden Namen. Der Deutschen reines Gewissen, das Weiße Röslein, historischer Weichspüler und Sinnbild für all diejenigen, die schon damals dagegen waren und es immer sein werden, die frömmelnde, bleiche Weste, die uns durch die Dunkelheit führt – schulfernsehengemäß in Szene gesetzt von einem gelernten Regieassistenten, der uns noch vor einigen Jahren mit dem Film »Harte Jungs« eineinhalb Stunden lang gezeigt hat, wie man als Pubertierender eine Colaflasche öffnet, ohne dass einem dabei der eigene Ständer in die Quere kommt.

Und dafür nun, Julia, hältst du diesen Bären in der Hand und lachst dein unsicheres, zerbrechliches Lächeln. Viel wird in den kommenden Wochen über dich geschrieben werden. Über die Schauspielerin Jentsch, die vorher keine Pornofilme gedreht, sondern Theater gespielt hat, über dein perfektes Handwerk, deine Ausstrahlung, deine Chancen in Hollywood. Und in all dem vielen wird dieser kleine offene Brief wahrscheinlich untergehen. Aber eines Tages wirst du diesen Brief vielleicht doch noch in den Händen halten, von einer deiner Schauspielagentinnen bei irgendeinem Filmbrunch zugeschoben, mit hochgezogenen Augenbrauen und einem näselnden »Kennst du den, der das geschrieben hat, denn wirklich …?!« Und wahrscheinlich wirst du dann auf den Boden blicken und ein wenig peinlich berührt abwinken und so etwas murmeln wie: »Das ist lange her«, und währenddessen wirst du ganz tief drinnen in dir spüren, dass ich natürlich Recht habe mit dem, was ich dir schreibe.

Und verständlicherweise werde ich dann meine Chance darauf, vielleicht doch noch eines Tages eine Mail von dir zu bekommen, endgültig verspielt haben. Und das, liebe Julia, macht mich tatsächlich aufrichtig traurig, trotzalledem.