Kidnapping mit Methode

In Tschetschenien boomt die Entführungsindustrie. Die Privatarmee des Vizepremiers Ramzan Kadyrow soll die Hauptverantwortung dafür tragen. von ute weinmann, moskau

Von einer »Normalisierung« der Beziehungen zur kaukasischen Teilrepublik Tschetschenien spricht der Kreml seit ein, zwei Jahren. Aber die Verhältnisse dort haben sich seither erheblich verschlechtert. So jedenfalls lautet das Fazit von Human Rights Watch und der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial.

Jüngst veröffentlichte Memorial einen Bericht über Personen, die im Jahr 2004 in Tschetschenien entführt wurden oder seither als vermisst gelten. Von insgesamt 396 Fällen von Menschenraub weiß die Organisation, die sich aus lokalen Quellen informierte, zu berichten. Zuarbeiter hat die Organisation jedoch allenfalls in einem Drittel des tschetschenischen Territoriums; zudem treffen Meldungen über vermisste Angehörige oftmals erst um Wochen oder gar Monate verspätet ein, so dass die tatsächliche Zahl der Vermissten vermutlich weitaus höher sein dürfte. Human Rights Watch beziffert sie auf mehr als 1 000. Inzwischen »verschwinden« immer häufiger Kinder und alte Menschen, zugleich sinkt die Bereitschaft in der Bevölkerung, sich jemandem außerhalb der eigenen Familie anzuvertrauen. Mittlerweile werden auch aus den Nachbarrepubliken Inguschetien, Nordossetien und Dagestan Entführungen gemeldet.

Zwar gibt es kaum gesicherte Informationen aus Tschetschenien, dennoch deutet einiges darauf, dass zumindest für einen großen Teil dieser Entführungen Ramzan Kadyrow verantwortlich ist. Er ist nicht irgendein Warlord, sondern der tschetschenische Vizepremier und Sohn des im Jahr 2004 ermordeten Präsidenten Achmed Kadyrow. Zugleich befehligt er eine Privatarmee, die zwischen 1 200 und 2 500 Mann umfassen soll. Viele seiner Leute kämpften früher auf Seiten der Separatisten und wechselten nach einer Amnestie die Fronten. Die Kämpfer haben oft Ausweise des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB, entziehen sich aber jeder Kontrolle durch tschetschenische oder russische Behörden. Ramzan Kadyrow war zudem bis vor kurzem Leiter des Sicherheitsdienstes von Alu Alchanow, dem derzeitigen Präsidenten der Republik Tschetschenien.

Sowohl Menschenrechtsorganisationen als auch Vertreter der russischen Armee sehen mittlerweile in Ramzan Kadyrow den Hauptverantwortlichen für zahllose in Tschetschenien verübte Verbrechen. Darunter fällt auch die Entführung von acht Verwandten des Separatistenführers Aslan Maschadow im Dezember. Einer der Entführten konnte inzwischen in einem Untersuchungsgefängnis ausfindig gemacht werden, ihm wird die Teilnahme am bewaffneten Kampf vorgeworfen. Das Schicksal der anderen sieben Personen blieb lange unklar, erst Mitte Februar bestätigte Präsident Alchanow, dass sie entführt worden sind.

Offenbar will man mit systematischer Gewalt gegen Familienangehörige den Druck auf Separatisten erhöhen. Mitunter klappt die brachiale Methode. So stellte sich im März 2004 der Feldkommandant Magomed Chambijew den Behörden, nachdem 40 seiner Angehörigen entführt worden waren.

Auch russische Stellen gestehen mittlerweile das Problem der Entführungen ein. Ende Januar sagte der Leiter des nordkaukasischen Antiterrorstabs, Generalleutnant Arkadij Jedelejew: »Wir haben Beweismaterial dafür, dass an dieser Art von Verbrechen alle drei Seiten beteiligt sind.« Also die Separatisten, die diversen russischen Einheiten und eben tschetschenische Truppen.

Seit der Ermordung des einst von der russischen Regierung inthronisierten tschetschenischen Präsidenten Achmed Kadyrow im Juni 2004 hat sich das Verhältnis zwischen den russischen Sicherheitskräften und der formal unabhängigen tschetschenischen Miliz Kadyrovs verschlechtert. Doch entscheidender für die gegenwärtige Lage in Tschetschenien ist der Konflikt zwischen den Anhängern Ramzan Kadyrows und jener tschetschenischen Miliz, die sich loyal gegenüber Präsident Alchanow verhält.

Ramzan Kadyrow dürfte mittlerweile zu der am meisten verhassten Person in Tschetschenien avanciert sein. Seine Versuche, sich durch verstärkte militärische Einsätze in dem von den Separatisten kontrollierten Bergregionen im Süden der Republik zu profilieren, waren bislang nur mäßig erfolgreich. Zugleich hat er eigenmächtig leitende Mitarbeiter des Innenministeriums auf regionaler Ebene durch seine eigenen Leute ersetzt. In jüngster Zeit ist er auch dazu übergangen, Minderjährige zu rekrutieren. Kadyrows Leute sollen dabei den Eltern sagen, dass es sich um eine Art Präventivmaßnahme handle, um zu verhindern, dass sich die Heranwachsenden den Einheiten von Maschadow und des islamistischen Warlords Schamil Bassajew anschließen.

Dennoch beginnt Kadyrows Stern zu sinken. Er selbst dürfte das spätestens im Dezember gemerkt haben, als ihm der russische Präsident Wladimir Putin den Titel »Held Russlands« verlieh – eine gängige Methode, eine unliebsame Figur mit Komplimenten ins Abseits zu befördern. Der Kreml hat offenbar erkannt, dass es ein Fehler war, Kadyrow zu unterstützen und dessen blutige Eskapaden zu tolerieren. Doch alle Versuche der russischen Regierung, die Rivalitäten innerhalb der tschetschenischen Führung zu schlichten, sind bislang gescheitert. Allerdings kommt diese Initiative viel zu spät, da Kadyrow einen Rückzug vehement ablehnt.

Für die Regierung Russlands wäre es höchste Zeit, Kadyrow zu entmachten. Schließlich ist für März auf Anregung des Europarats ein erster »runder Tisch« in Moskau geplant, an dem sich sowohl europäische Parlamentarier wie tschetschenische Politiker beteiligen sollen. Es soll den Auftakt für eine Reihe von Gesprächen bilden, die das Ziel haben, den bewaffneten Konflikt in Tschetschenien beizulegen. Ausgeladen bleiben allerdings die Anhänger der tschetschenischen Souveränität.

Die westlichen Staaten versuchen, Maschadow dazu zu drängen, den bewaffneten Kampf einzustellen. Mitte Januar ließ er einen bis zum 22. Februar befristeten Waffenstillstand verkünden, um zum wiederholten Male seine Verhandlungsbereitschaft zu demonstrieren und zu zeigen, dass er nach wie vor die bewaffneten Einheiten der Separatisten kontrolliert. Die russische und die tschetschenische Führung stuften das Angebot trotz der gesunkenen Anzahl bewaffneter Übergriffe der Separatisten als Bluff ein und konterten mit gezielten Provokationen. Hingegen fiel die öffentliche Resonanz auf das Angebot ausgesprochen positiv aus.

Moskau arbeitet weiter an einer vermeintlichen Normalisierung der tschetschenischen Verhältnisse. In diesem Jahr sollen Parlamentswahlen stattfinden, in Planung ist zudem die Unterzeichnung eines Vertrages, der Tschetschenien weitgehende politische, ökonomische und finanzielle Vollmachten überträgt.

Tatsächlich konnte bislang aber nur ein Ergebnis erzielt werden: Man spricht in Russland inzwischen kaum noch über die Verantwortung der russischen Führung für die Entwicklung in Tschetschenien. Und solange Tschetschenen nur Tschetschenen töten, scheint die Ordnung wieder hergestellt.