Im Zweifel für den Minister

Obwohl er Deutschland nur »weltoffener« machen wollte, räumt Joschka Fischer in der Visa-Affäre Fehler ein. Seine Partei nimmt’s ihm ab. von steffen falk

Dieser Wahlkampf wird alles andere als einfach«, prophezeite Joschka Fischer am Samstag den 280 Delegierten des Landesparteitages der nordrhein-westfälischen Grünen in Köln. Am Ende seiner Rede bedankten sie sich mit lang anhaltendem Applaus nicht nur für seine Aussagen zur so genannten Visa-Affäre. Die Delegierten und die 300 Journalisten bekamen einen schuldbewussten und gleichzeitig kämpferischen Hauptredner zu hören.

Zwei Fehler gestand Joschka Fischer, der nach den Umfragen des ZDF-Politbarometers nur noch der zweitbeliebteste deutsche Politiker ist, der interessierten Öffentlichkeit ein. Zum einen hätte er es im Herbst 1999 nicht zulassen sollen, dass zwei Erlasse das »missbrauchsanfällige Instrument der Reiseschutzversicherung noch missbrauchsanfälliger gemacht haben«. Zum anderen habe er in den Jahren 2000 bis 2002, als die Folgen der Erlasse amtlich bekannt wurden, nicht entschlossen genug gehandelt. Was aber war der Inhalt dieser Amtsvorgänge, und welche Folgen werden nun skandalisiert?

Bereits in der Zeit der schwarz-gelben Bundesregierung unter Helmut Kohl gab es so genannte Carnets de Touriste, deren Inhabern die Übernahme der Rückreisekosten in ihr Herkunftsland gewährleistet wurde. Im Jahre 1999 wies das Auswärtige Amt die deutschen Botschaften an, die derart Versicherten vom Nachweis ihrer Rückkehrwilligkeit zu entbinden. Ein weiterer, der so genannte Volmer-Erlass, wies die auswärtigen Staatsdiener an, »im Zweifel für die Reisefreiheit« zu entscheiden.

Diese beiden Vorgaben, die die Einreise in die Bundesrepublik erleichterten, liegen dem gegenwärtigen Skandal zugrunde. Die Vertreter der innenpolitischen Doktrin, derzufolge im Zweifel für die Sicherheit zu entscheiden sei, behaupten, dass mit den Reiseschutzpässen nicht nur kulturbeflissene Touristen, geschäftstüchtige Joint-Venture-Unternehmer und Familienangehörige, sondern in angeblich noch viel größerer Anzahl auch Zuhälter, Prostituierte, Kleinkriminelle und Billiglöhner nach Deutschland gekommen sein könnten.

Mangelnde Sorge um die innere Sicherheit wollte sich Joschka Fischer nicht vorwerfen lassen: »Die Sicherheitsnachfragen im Ausländerzentralregister und im Schengen-Informationssystem sind niemals eingestellt worden«, betonte er in seiner Rede. Dass der politische Menschenhandel an der Tagesordnung ist, etwa wenn es um Arbeitskräfte geht, die ein Land kurzfristig benötigt, und ansonsten ein Grenzregime aufrechterhalten wird, das über Leichen geht, stellt ein grüner Vertreter deutscher Interessen nicht in Frage, derzeit schon gleich gar nicht.

Das Visum, das die Botschaft eines Landes dem Staatsbürger eines anderen ausstellt, ist ein Rechtstitel, der nicht selten politischen und ökonomischen Interessen dient. Die Vergabepraxis wird aktuellen diplomatischen Auseinandersetzungen und gegenseitigen politökonomischen Ansprüchen angeglichen. Das Recht auf Fortbewegung in anderer Herren Länder ist an die Pflicht zur Rückkehr gebunden. Deswegen ist die viel gelobte Reisefreiheit zeitlich begrenzt.

Auch die Menge der Einreisegenehmigungen ist in der Regel in jedem Land beschränkt, selbst der »Grenzverkehr« innerhalb der grenzenlosen Europäischen Union ist an strenge Sicherheitsvorkehrungen wie etwa die Schleierfahndung im ehemaligen Grenzgebiet, Regelanfragen etc. gebunden und kann bei Bedarf wieder eingeschränkt werden, etwa wenn Proteste wie in Genua im Jahr 2001 anstehen. Auch legal Einreisende unterliegen dem Generalverdacht, dass sie nicht wieder in ihre Herkunftsländer abreisen, sondern dort bleiben, wo sie nach Auffassung des Gastgebers nicht hingehören. Allein die Auflagen, an die die Vergabe der Papiere gebunden ist, zeugen von dem generellen Misstrauen, das Staaten gegen ihre jeweiligen Insassen hegen.

Der Visa-Skandal soll nun darin bestehen, dass ein von seiner angeblichen Multikulti-Ideologie verblendeter Außenminister nicht registriert habe, wie die illegale Einwanderung zunahm. Unverantwortlich sei dies, weil Fischer es am nötigen Misstrauen gegenüber der kriminellen Energie von osteuropäischen Schleusern und Einwanderern habe fehlen lassen. Die CDU will zeigen, dass die rot-grüne Bundesregierung unkontrollierten Bevölkerungszuwachs zulässt. Noch schlimmer soll der Vorwurf wiegen, dass dies willentlich geschah. »Es war kein Versehen, es war Absicht. Die Grünen wollten schon immer die Tore weit aufmachen«, sagte der hessische Ministerpräsident Roland Koch (CDU). Mehr Ausländer bedeuten ein größeres Potenzial an Kriminalität und weniger Arbeitsplätze für Deutsche, so lautet die schlichte Gleichung der Christdemokraten.

Die Grünen werben nun hingegen für Toleranz, Minderheitenschutz und Weltoffenheit. »Wir leben von der Welt und müssen uns auch deswegen für die Welt öffnen«, stellte Fischer in Köln fest. »Ich appelliere hier nochmals an die Union, sie soll meinetwegen meine Fehler anprangern. Sie soll meinen Rücktritt fordern, aber sie soll endlich aufhören, ein tapferes, ein ganzes Volk der Ukraine als Kriminelle zu stigmatisieren, nur um innenpolitisch einen Wahlvorteil zu haben.« Derart versuchte Fischer das positive Image der Ukraine nach dem jüngsten Machtwechsel zu nutzen und Mitleid für sich zu erheischen. Bärbel Höhn, die Vorsitzende der nordrhein-westfälischen Grünen, fand Fischers Rede »toll« und »motivierend«, ihre Partei stehe für ein »modernes, weltoffenes Deutschland«.

»Das heißt natürlich nicht offene Grenzen für alle«, räumte Michael Vesper ein, der stellvertretende Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen. Die Grünen kritisieren die Angriffe der CDU als nationalistische Entgleisungen und präsentieren sich dem Wahlvolk im gleichen Atemzug als die kompetenteren Verwalter deutscher Interessen. Doch wer Weltoffenheit als Konkurrenzvorteil anpreist, steht zum Arbeitsplatznationalismus und weiß sich in der Sorge um Deutschlands Platz in der Welt einig mit dem politischen Gegner. So streiten sich auch in der so genannten Visa-Affäre zwei nationalistische Fraktionen mit derselben Frage herum: Nützen oder schaden die sich auf deutschem Staatsboden aufhaltenden Bürger anderer Staaten deutschen Interessen?

In den zurückliegenden Krisen der Bundesregierung wankte meist die SPD; nun könnten erstmals die Grünen die Mehrheit der rot-grünen Koalition gefährden. Die Rede auf der Landesdelegiertenkonferenz der Grünen sollte den Wahlkampf mit Joschka Fischer drei Monate vor der nordrhein-westfälischen Landtagswahl am 22. Mai retten, ganz nach dem Motto: »Außen Minister, innen grün.«

Angela Merkel, die Vorsitzende der CDU, kann Joschka Fischer noch so oft zur Aufgabe seines Amts auffordern, wenn der in der Bewältigung von Skandalen Geübte seine Fehler einräumt, heißt das noch lange nicht, dass er zurücktritt. Er wird, wenn nichts mehr dazwischenkommt, unverdrossen weitermachen, ganz im Stile Helmut Kohls oder Roland Kochs. Die grüne Basis, »die sich für nichts zu entschuldigen« habe (Joschka Fischer), kann wieder selbstbewusst in den Wahlkampf ziehen.