Dr. Gonzos Deadline

Zum Tod des Journalisten und Schriftstellers Hunter S. Thompson. von markus ströhlein

Das Spiel besteht aus einem Golfer, einem Schützen und einem Schiedsrichter. Ziel des Spiels ist es, den gegnerischen Golfball im Flug mit einem großkalibrigen Gewehr abzuschießen.« Hollywoodstar Bill Murray zeigte sich äußerst angetan, als Hunter S. Thompson ihm am Telefon sein Konzept des »Shotgun Golf« erklärte. Das nächtliche Gespräch von Kauz zu Kauz veröffentlichte Thompson in seiner wöchentlichen Kolumne »Hey Rube« im Internet-Sportmagazin ESPN. Man stelle sich vor: Bill Murray und Hunter S. Thompson ziehen, Golfschläger schwingend, schwer bewaffnet und unter Einfluss von Alkohol und bewusstseinsverändernden Substanzen, marodierend über das Grün eines Jet-Set-Golfclubs. Oder wie Thompson selbst schrieb: »Welcome to the future of America. Welcome to Shotgun Golf.«

Die Zukunft Amerikas und des Shotgun Golf wird ohne Hunter S. Thompson stattfinden müssen. Die Kolumne vom 15. Februar war die letzte Amtshandlung des Königs des Gonzo-Journalismus. Am 20. Februar nahm er sich im Alter von 67 Jahren das Leben. Wahrscheinlich würde Thompson lachen, wenn man ihn zu seinem Entschluss, statt des Golfschlägers gleich das Gewehr benutzt zu haben, beglückwünschte. Denn sein Humor ist buchstäblich unsterblich. Noch zu Lebzeiten hat Hunter S. Thompson darauf bestanden, dass seine Asche mit einer Kanone in den Himmel geschossen werden solle. Nun sind Familienangehörige und Freunde auf der Suche nach einer Kanone, so auch Johnny Depp, der sich, wie die Denver Post berichtete, um eine Kanone aus dem Film »Fluch der Karibik« bemüht.

Was auch immer bei der Trauerfeier im Nachtclub »Belly Up« in Aspen, Colorado, geschehen wird, es wird nicht nur der Abschied von einer Person, sondern auch von einer Institution sein. Thompson war nicht einfach der Erfinder des Gonzo-Journalismus. Er war der King of Gonzo, Regent in seinem von ihm selbst geschaffenen Reich. Neben seinen Kolumnen im Rolling Stone und bei ESPN und Büchern wie »Hell’s Angels« und »Fear and Loathing in Las Vegas« hinterlässt er eine große Kiste Materialien, in der noch einiges unentdeckt ist. So fand seine Familie Aktenordner, in denen Thompson Manuskripte, Kommentare und Kritiken zum Zeitgeschehen abgeheftet hat, die allesamt unveröffentlicht sind. Das Gonzo-Reich ist größer als bisher angenommen.

Dabei hat alles aus der Not heraus begonnen. 1970 befand sich Hunter S. Thompson im Auftrag des Sportmagazins Scanlan in Kentucky, um über ein Pferderennen zu berichten, als er sich mit dem Alptraum jedes Journalisten konfrontiert sah, der Deadline.

»Mir lief die Zeit davon. Ich war verzweifelt. Ralph Steadman hatte die Illustrationen gemacht, das Titelbild war schon im Druck und ich hatte dieses schreckliche Loch. Ich war überzeugt, ich wäre am Ende. Mein Verstand spielte verrückt. Ich konnte nicht arbeiten. Also habe ich schließlich angefangen, Seiten aus meinem Notizblock zu reißen, zu nummerieren und an den Redakteur zu schicken. Ich war mir sicher, dass das der letzte Artikel war, den ich jemals für jemanden gemacht hatte. Doch als er heraus kam, gab es eine große Zahl von Briefen, Anrufen, Glückwünschen, Leuten, die ihn ›einen großen Durchbruch im Journalismus‹ nannten. Und ich dachte: Heilige Scheiße, wenn ich so schreiben kann und damit durchkomme, warum soll ich dann weiter versuchen, so wie die New York Times zu schreiben. Es war, als würde man einen Fahrstuhlschacht hinunterfallen und in einem Pool voller Meerjungfrauen landen.«

So beschrieb Hunter S. Thompson die Geburtsstunde des Gonzo-Journalismus im Interview mit dem amerikanischen Playboy im November 1974. Sein Freund Bill Cardoso soll ihm das entscheidende Stichwort geliefert haben, als er nach der Lektüre von »The Kentucky Derby is decadent and depraved« in einem Brief konstatierte: »Ich weiß nicht, was zur Hölle du machst. Aber du hast alles verändert. Es ist total gonzo.«

Gonzo-Journalismus, der böse Bruder des New Journalism, war geboren. In den Sechzigern war Thompson nicht der einzige, den die Arbeit im konventionellen Journalismus desillusionierte. Journalisten wie Tom Wolfe oder George Plimpton wandten sich den toten Winkeln traditioneller Berichterstattung zu, verfassten Reportagen über gesellschaftliche Außenseiter und die ersten Texte der amerikanischen Counterculture und vermengten dabei journalistische mit schriftstellerischen Techniken.

Auch Thompson leistete mit seinem Buch »Hell’s Angels« von 1966 einen Beitrag zum New Journalism. Mehrere Monate war er mit der berüchtigten Motorradgang unterwegs gewesen, hatte sich mit Bikern besoffen, geprügelt und seinen allerersten LSD-Trip absolviert, der nicht sein letzter sein sollte. Doch »The Kentucky Derby is decadent and depraved« war anders. Der Artikel handelte weniger vom Pferderennen selbst, dessen Sieger man letztlich nicht einmal erfuhr, sondern von Thompsons Begegnungen mit allerlei schrägen Vögeln.

Hatte der New Journalism den Fokus der Betrachtung auf die Ränder der amerikanischen Gesellschaft verlegt, ging Thompson mit seinem Gonzo-Journalismus einen Schritt weiter und ließ sein Innenleben in einer nicht minder verrückten Außenwelt literarisch Amok laufen. In seinen folgenden Artikeln und Büchern sprang er zwischen Sport, Politik, Sex, Gewalt und Drogen hin und her, er selbst als Figur immer in der ersten Reihe. Was Fakt, was Fiktion war, blieb der Entscheidung des Lesers überlassen. Dem Objektivitätsmythos der Mainstream-Medien wurde die eigene Hyper-Subjektivität entgegengestellt.

Bald wurde seine Stimme auch außerhalb der amerikanischen Counterculture wahrgenommen. Während seiner Berichterstattung zu den Präsidentschaftswahlen 1972 zitierte ihn die New York Times mit den Worten, Hubert Humphrey mache Wahlkampf wie »eine brünftige Ratte«. Was jedoch zu größerer Aufmerksamkeit führte als sein beißender Spott über die amerikanische Gesellschaft, war sein Image als Outlaw-Journalist mit Sonnenbrille und Kippe im Mundwinkel. Als unerreichtes Role-Model für Popliteraten hatte Thompson Groupies und Drogenexzesse, Auftritte in Talkshows und prominente Freunde wie Johnny Depp, Bill Murray und Keith Richards. Er existierte auch als Comic-Figur »Uncle Duke«, angelehnt an eines seiner tatsächlichen Pseudonyme, Raoul Duke, in Garry Trudeaus Comic-Serie »Doonesbury«. Sogar eine »Uncle Duke«-Actionfigur gab es, in Tarnkleidung, mit einer AK 47 aus Plastik, einer Whiskyflasche und einem Weingläschen. Bill Murray spielte Hunter S. Thompson im Kinofilm »Where the Buffalo roam«, Johnny Depp verkörperte ihn in »Fear and Loathing in Las Vegas«. Das Wort »gonzo« steht mittlerweile im Oxford English Dictionary, ist also in den offiziellen englischen Sprachgebrauch eingegangen. Und wenn die Washington Post Hunter S. Thompson in einem Nachruf als »einzigartige Figur des amerikanischen Journalismus« bezeichnet, ist klar, dass der King of Gonzo längst dort angekommen ist, wo er nie sein wollte, im Mainstream des Kulturbetriebs.