Irgendwie Deutschland

Schalke 04 und der Nationalsozialismus. Von Dietrich Schulze-Marmeling

Dass der FC Schalke 04 sechs seiner bis heute sieben Meistertitel in den Jahren des NS-Regimes errang, gibt zu der Frage Anlass, inwieweit der Verein ein Profiteur der damaligen Verhältnisse war und von den Nazis begünstigt wurde. Die Nazis benutzten Schalke zum Transport ihres Bildes vom deutschen Arbeiter, das durch den harten Einsatz in der Produktion und unbedingtes Pflichtbewusstsein gegenüber der »Volksgemeinschaft« charakterisiert war, sowie zur Propagierung ihrer Ertüchtigungsideologie und deren Erfolgsträchtigkeit.

In einem Fußballbuch aus den dreißiger Jahren heißt es: »Schalkes Leistung ist Leistung aus Verbundenheit mit dem Volke. Gerade die Mannen um Szepan und Kuzorra haben gefühlt und erkannt, welche Kräfte in der Begeisterung einer ganzen Gemeinschaft stecken. (…) In all diesem Sinne hat die Schalker Mannschaft eine besondere innige Beziehung zu den Voraussetzungen des Nationalsozialismus. Hier wird einfach Fußballsport getrieben im Sinne der Bewegung. (…) Schalke wurde Deutschland. Irgendwie Deutschland.« Außerdem wurden Übereinstimmungen zwischen der NS-Ideologie und dem Schalker Spielstil konstatiert. Und hier und dort wurde das Team auch ganz direkt von den braunen Herrschern protegiert.

Die Tatsache, dass Schalke von der Nazipropaganda instrumentalisiert wurde, heißt allerdings nicht, dass es sich bei den Spielern und Funktionären samt und sonders um bekennende Nazis handelte. Genauso wenig lässt sich behaupten, dass der Verein wegen seiner Herkunft aus dem Arbeitermilieu widerständig gewesen sei, auch wenn im unmittelbaren Einzugsbereich der Schalker zu Weimarer Zeiten die »Linksparteien« das Sagen hatten.

Die strategische Bedeutung, die die Nazis Kohle und Stahl beimaßen, führte zu einer Verminderung der Arbeitslosenzahlen im Revier und förderte die Integration der Arbeiterschaft ins politische System. Letztlich dürfte es sich mit den Aktiven und Anhängern der »Arbeitervereine« so verhalten haben wie mit Teilen der Arbeiterschaft. Viele Arbeiter gingen nicht in den Widerstand, noch wurden sie zu beigeisterten Anhängern der braunen Herrscher. Man verharrte in skeptischer Distanz und zog sich in ein betont unpolitisches Leben zurück. Zu diesem Rückzug ins Unpolitische zählte auch der FC Schalke 04.

Dass die Nazis Schalke liebten, war wohl dem Umstand geschuldet, dass die »Knappen« erfolgreich waren. Und als »plebejischer« Verein waren sie der antiintellektuellen Bewegung sicherlich sympathischer als die eine oder andere bürgerliche Adresse.

Dies kommt auch in einem angeblichen Zitat Ernst Kuzorras zum Ausdruck, das unter dem Verdacht steht, es sei der Legende in den Mund gelegt worden: »Der studierende Mensch ist noch zu sehr der fragende, um die antwortfrohe Entschlossenheit aufzubringen, auf die es im Sport, wie nebenbei auch auf anderen Gebieten, zum Beispiel in der Politik – welchen Beweis liefert hier schon allein Adolf Hitler! – vielleicht zuallererst ankommt. Ich habe die Feststellung gemacht, dass bei den so genannten Intelligenzvereinen, den gutbürgerlichen Sportvereinen mit dem Stich ins Vornehme, zwar die Schüler- und Jugendmannschaften ihren Gegnern überlegen sind. Aber wenn es heißt, den Sprung in die erste Mannschaft zu tun und die entscheidende Probe zu bestehen, dann versagt allzu oft gerade dieser Nachwuchs.«

Als Italien im Jahr 1934 Weltmeister wurde, erkannten manche Beobachter im Ilmetodo-System die faschistische Denkweise von Fußballern als (unbewaffnete) Krieger der Nation. Wegen seiner robusten Spielweise und einiger wohl vom »Duce« beeinflussten Schiedsrichterentscheidungen ging das Team von Vittorio Pozzo als »hässlicher Weltmeister« in die Geschichte ein. Aus der Spielweise der Schalker lassen sich weit weniger Affinitäten mit der Ideologie der braunen Herrscher herauslesen.

In der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre hatten sie den so genannten »Schalker Kreisel« etabliert, ein System aus Kurzpasskombinationen, in das möglichst viele Spieler einbezogen wurden und bei dem der Ball wie ein Kreisel über das gesamte Spielfeld tanzte. Der »Kreisel« war eine beeindruckende Demonstration technischer Überlegenheit, erwies sich aber zugleich häufiger als ineffizient. Gegner mit harten und kompromisslosen Verteidigern und geradlinig agierenden schnellen Stürmern konnten die Schalker schon mal »in Schönheit sterben lassen«.

1933 wurde Hans Schmidt Trainer, und unter ihm wurde die Spielweise sowohl defensiver als auch rationalisiert, was sich aber schwerlich als Ausdruck der neuen politischen Verhältnisse interpretieren ließ. Vielmehr handelte es sich um eine Modifizierung, wie sie noch heute für die Entwicklung einer aufstrebenden Mannschaft typisch ist. Ansonsten frönten die Schalker halt jenen Tugenden, wie sie auch von vielen andere Vereinen aus dem schwerindustriellen Milieu vor 1933 und nach 1945 praktiziert wurden.

Die direkte Unterstützung durch die Nazis fiel nicht sonderlich groß aus. Bekannt ist u.a. der Fall des Torhüters Heinz Flotho, der im vierten Kriegsjahr von der Front zu den »Knappen« beordert wurde und dann beim »großdeutschen« Finale gegen Vienna Wien zwischen den Pfosten stand.

Schalke 04 profitierte weniger von propagandistischer Rückendeckung und direkter Einflussnahme als vielmehr von den ökonomischen Strukturen des deutschen Fußballs dieser Jahre. Der Aufstieg der so genannten Arbeitervereine begann nach dem Ersten Weltkrieg, als der Fußball eine soziale Ausbreitung erfuhr und sich zum Zuschauersport entwickelte. Ein sozialer Machtwechsel ließ allerdings noch einige Jahre auf sich warten. 1929 wurde Schalke erstmals Westdeutscher Meister, 1934 folgte der erste nationale Titel.

Der letzte Deutsche Meister vor der »Machtergreifung« war 1932 der FC Bayern München, ein bürgerlicher Klub mit jüdischem Präsidenten und jüdischem Trainer. Der Verein gehörte schon damals zu den treibenden Kräften im deutschen Fußball, betrieb eine exzellente Nachwuchsarbeit, holte zahlreiche namhafte ausländische Teams nach München und zahlte seinen Akteuren wohl auch schon Geld. Offiziell gab es in Deutschland allerdings nur Amateure. Anfang 1925 hatte der DFB sogar einen Boykott der Profiteams aus Wien und Budapest beschlossen, die beim FC Bayern häufiger zu Gast waren. Noch 1930 erschien im Jahrbuch des Verbands ein Beitrag mit dem Titel »Kampf dem Berufssport«.

1932 riefen Journalisten eine Initiative zur Bildung einer professionellen »Reichsliga« ins Leben, dem sich auch der FC Bayern anschloss, und auch beim 1930 wegen Handgeldazahlungen für ein Jahr gesperrten Schalke 04 unterstützte man dieses Vorhaben. Doch mit dem 30. Januar 1933 »war das Thema Profifußball für zwölf Jahre vom Tisch, vermutlich zur Erleichterung einer ganzen Reihe von Fußballoberen«, wie der Historiker Arthur Heinrich schreibt. Denn auch die Nazis waren entschiedene Gegner des Professionalismus, den sie als »jüdische Kreation« betrachteten.

Die Reamateurisierung des deutschen Spitzenfußballs machte dem FC Bayern schwer zu schaffen. So hieß es in der Fußball-Woche: »Nicht überall ist die Umstellung vom Spesen-Amateur auf den ›bargeldlosen‹ Amateur von heute auf morgen ohne Verlust möglich gewesen. Besonders schwer scheint es in dieser Hinsicht Bayern München gehabt zu haben.« Bayerns Torjäger Oskar Rohr verließ Deutschland, um sich in der Schweiz und in Frankreich seinen Traum vom Profifußballer zu erfüllen.

Zu den Profiteuren dieser Entwicklung zählte Schalke 04, zumal der Verein mit der lokalen Schwerindustrie im Bunde war. Bereits beim Bau der »Glückauf-Kampfbahn« (1927/28) hatte die Zeche »Consolidation« Pate gestanden. Der offiziellen Amateurideologie zum Trotz herrschten »auf Schalke« professionelle Verhältnisse.

Ein weiteres Beispiel aus der »Gauliga Westfalen«, der die Schalker angehörten und in der sie von 1934 bis 1944 ununterbrochen Meister wurden, ist der VfL Altenbögge aus einer kleinen Bergbaugemeinde am östlichen Rand des Ruhrgebiets. Altenbögge zählte nicht einmal 4 000 Einwohner, doch dank der Unterstützung durch die lokale Schachtanlage herrschten beim »Arbeiterverein« Verhältnisse, von denen viele bürgerliche Clubs aus größeren Städten nur träumen konnten. Die Spieler waren in der Regel auf der Zeche Königsborn III/IV beschäftigt und wurden von sympathisierenden Betriebsführern nur mit »leichter Arbeit« beauftragt und für das Training freigestellt. Die Zeche half auch beim Bau der Sportanlage »Am Rehbusch«, stellte der Mannschaft ihr Gesundheitshaus zur Verfügung und bezahlte einen hauptberuflichen Trainer, der als »Betriebssportlehrer« geführt wurde. Während zweier Spielzeiten – 1942/43 und 1943/44 – wurden die »Roten Husaren« hinter den Schalkern Vizemeister.

Der Standortvorteil von Schalke und Co. überdauerte die NS-Jahre zunächst. Nur dass die Schalker nun im eigenen Lager Konkurrenz bekamen, insbesondere in Gestalt von Rot-Weiß Essen und Borussia Dortmund. Rot-Weiß Essen gewann den Titel 1955 und war der erste Nachkriegsmeister aus dem Revier. Essen galt damals als größte »Kohlenstadt« in Europa. Die u.a. von der lokalen Stahlindustrie unterstützten Borussen wurden 1956 und 1957 Deutscher Meister. Ein Jahr später gewann Schalke seinen bis heute letzten Meistertitel.

Das Ende dieser Ära kam mit den Krisen in der Kohle- und Stahlindustrie sowie der Einführung der Bundesliga und des Profifußballs (1963). Die große Zeit des Revierfußballs war die des »informellen Professionalismus«. Von 1934 bis 1963 gingen immerhin elf der 27 Meistertitel ins Ruhrgebiet.