15.05.2002
Amoklauf nach dem Attentat in Erfurt

Video kills ...

Nach dem Amoklauf von Erfurt verschärft die Bundesregierung das Jugendschutzgesetz. Mitschuldig an der Gewalt seien die Medien.

Seit den Ereignissen von Erfurt laufen alle Amok. Populismus scheint die einzige Antwort auf das Gemetzel des 19jährigen Schützenbruders Roland Steinhäuser an einer Erfurter Schule zu sein. Obwohl es hauptsächlich Männer, älter als 25 Jahre, sind, die mit Schusswaffen Morde begehen, und obwohl der Staat selbst reihenweise 18jährige an scharfen Waffen zum Töten ausbildet, soll nun den unter 25jährigen der Gebrauch von Flinten, Knarren und Pistolen untersagt werden. Außer bei der Bundeswehr natürlich. Und im Polizeidienst.

Doch nicht nur das Waffenrecht, auch das Thema Jugendmedienschutz kommt im Rahmen der aufgeregten Debatte vor die mediale Pumpgun. Passenderweise sollte das Jugendschutzgesetz ohnehin - praktisch als letzte Amtshandlung dieser Regierung - noch vor der Bundestagswahl reformiert werden. Am Mittwoch letzter Woche verabschiedete das Kabinett nun kurzerhand einen in der Schublade liegenden Gesetzesentwurf, der möglichst bald dem Bundestag vorgelegt und bereits am 12. Juli im Bundesrat verabschiedet werden soll.

Analog zur Alterskennzeichnung von Kino- und Videofilmen soll es künftig auch bei Computerspielen eine entsprechende Beschränkung geben. Die Rolle der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien wird gestärkt. Sie soll künftig auch ohne Antrag einer Behörde tätig werden können. Außerdem will die Regierung in Absprache mit den Ministerpräsidenten der Länder eine Kommission für den Jugendschutz auf Landesebene einrichten.

Der Gesetzesentwurf war ohnehin gerade fertig geworden und wird nun wahlkämpferisch als Reaktion auf Erfurt verkauft. Das Gesetz regelt nicht nur medienspezifische Fragen, sondern beinhaltet unter anderem auch ein Verbot von Alkohol- und Tabakwerbung in Kinos vor 22 Uhr und ein Verbot von Zigarettenautomaten, sofern sie nicht gegen die Nutzung durch Jugendliche unter 16 Jahren gesichert sind.

Unterdessen wird weiter über die Gründe der angeblichen Zunahme von Jugendgewalt diskutiert. Dabei lässt sich eine solche Zunahme statistisch gar nicht belegen. Das Attentat von Erfurt ist vielmehr in jeder Hinsicht ein Einzelfall. Bei der Vorstellung der polizeilichen Kriminalstatistik hatte Innenminister Otto Schily vor zwei Wochen extra noch betont, dass die Zunahme der registrierten Straftaten um 1,6 Prozent darauf zurückzuführen sei, dass mehr Straftaten angezeigt würden, und eben nicht darauf, dass mehr Straftaten begangen würden. Im internationalen Vergleich sei Deutschland eines der sichersten Länder der Welt.

Gleichzeitig hat Deutschland neben Großbritannien in Europa auch längst die schärfsten Jugendschutzbestimmungen. Das ergab eine Untersuchung der EU-Kommission, die im April vorgestellt wurde. Im Februar 2002 standen bereits 363 Computerspiele und 2 807 Videofilme auf dem Index. Weshalb also jetzt plötzlich Handlungsdruck bestehen soll, ist rational nicht nachvollziehbar.

Jugendschutz und Familie scheinen wahlkampftaugliche Themen zu sein. Schlagworte wie »Kinderpornografie« eignen sich eben immer zum Schüren von Emotionen. Dabei zeigt sich gerade bei Kinderpornografie, dass nicht einmal klar definiert ist, wer beim Jugendschutz vor was geschützt werden soll. Bei Kinderpornografie handelt es sich um die Darstellung von Vergewaltigungen von Kindern. Die Konsumenten dieser Bilder sind aber nicht Kinder und Jugendliche, sondern ausschließlich erwachsene Männer. Hier müssen Kinder nicht vor den Filmen geschützt werden, sondern vor tatsächlichen Gewalttaten.

Da es keinerlei konkrete Erkenntnisse über den Zusammenhang von Medienkonsum und gewalttätigem Verhalten gibt, haben es die verschiedenen Interessenvertreter leicht, sich in einer mit vagen Vermutungen geführten Debatte gegenseitig anzuschwärzen. Die Politik, die natürlich keinesfalls eine Verantwortung übernehmen möchte, lenkte sogleich alle Diskussionen auf die Medien. Bundeskanzler Schröder traf sich mit den Intendanten der privaten und öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten und legte damit nahe, diese seien für die Geschehnisse von Erfurt verantwortlich. ARD und ZDF zeigten mit dem Finger auf die Privaten, und die Privaten machten ebenso wie die Gewerkschaft der Polizei Computerspiele und »Gewaltvideos« verantwortlich.

Der Interessenverband der Videotheken beschuldigte wiederum das Internet, in dem man sich jede Art von Filmen herunterladen könne. Eine Tatsache, die die Videotheken aus ganz anderen Gründen nervt, nämlich weil dies eine ernst zu nehmende Konkurrenz darstellt. Doch wer zeigt zurück auf die Politik, auf die Gesellschaft?

Richtig ist, dass bestimmte Gewalttaten eine Inszenierung aufweisen, die sich an aktuellen kulturellen Vorbildern orientiert. Das sieht man bei dem filmreifen Anschlag vom 11. September ebenso wie bei dem genau geplanten Showdown von Erfurt. Sicherlich sind diese Terrorakte von Filmen und Computerspielen inspiriert. Auch wenn es unter Soziologen dazu die unterschiedlichsten Meinungen gibt und Studien die unterschiedlichsten Ergebnisse zutage fördern, kann man diese These zumindest als nicht widerlegt zur Kenntnis nehmen. Denn ob sie zutrifft oder nicht, ist zweitrangig. Der Umkehrschluss jedoch, dass die Gewaltdarstellungen in den Medien für tatsächliche Gewalttaten verantwortlich sind, ist völlig unhaltbar. Diese Anschläge hätte es auch ohne Filme und Computerspiele gegeben, nur wären sie anders inszeniert gewesen.

Wenn Fernsehen und Internet für die Gewalt in der Gesellschaft verantwortlich wären, dann hätte das Mittelalter ein friedliches Paradies sein müssen. Die fernseh- und computerfreie Gesellschaft der Taliban wäre ein Hort der Zivilisation und Menschlichkeit gewesen. Auch kann man mit der einfachen Kausalformel »Medien gleich Gewalt« nicht erklären, weshalb fast ausschließlich Männer Gewalttaten begehen. Folgte man der Logik ernsthaft, würde es genügen, männlichen Jugendlichen das Anschauen von Gewaltfilmen zu verbieten, denn tatsächlich sehen sich mehr Jungs und Männer solche Filme an als Mädchen und Frauen. Auch sind bei ihnen gewalttätige Computerspiele wesentlich beliebter. Muss nicht hier nach Ursachen geforscht werden? Zeigt dieser Umstand nicht eindeutig, dass die Medien- und Softwareanbieter nur auf eine entsprechende Nachfrage reagieren und die Wurzeln woanders zu suchen sind?

ARD-Chef Fritz Pleitgen erklärte, das Fernsehen müsse Gewalt als Mittel der Konfliktlösung ächten und kritisieren. Das klingt gut. Doch in einem Land, das Kriege führt, ist das ein schlechter Witz. Wie sollen Politiker, die Soldaten in die Welt schicken, und Medien, die das tagtäglich rechtfertigen, Kinder zum Pazifismus anhalten? Wie soll ein Vater, der im Schützenverein aktiv ist, seinem Sohn beibringen, dass Waffen etwas Schlechtes sind? Wie soll die Bild, bei der sich in jeder dritten Schlagzeile der Blutrausch Bahn bricht, für gewaltlose Konfliktlösung werben?

Dass Medien nur ein Abbild der Gesellschaft sind, schien einmal Konsens im wissenschaftlichen Diskurs zu sein. Nach Erfurt ist von dieser Erkenntnis nicht mehr viel übrig geblieben. Stattdessen werden im Wahlkampf die Gehirne ausgeschaltet und man setzt ausschließlich auf Effekte. Nicht anders also als in einem guten Actionstreifen.