Brief an die Leser

Träum, so viel du willst

Als friedliebender Bücherleser bist du eine Spezies Mensch, die vom Aussterben bedroht ist und nicht nur wegen der von der Schule mit Erfolg vorangetriebenen systematischen und intensiven Analphabetisierungsarbeit nach den Richtlinien der »drei I«: Inglese, Impresa, Internet.* Bücher dagegen sind keinesfalls vom Aussterben bedroht, es werden sogar immer mehr geschrieben, immer mehr gedruckt, die Buchhandlungen quellen über davon und manchmal wird auch eins verkauft. Aber nur ganz wenige werden auch tatsächlich gelesen, vor allem heimlich. Mit ihren grellbunten Umschlägen dienen sie im allgemeinen Dekorationszwecken und liegen und stehen auf Tischen und in Regalen herum, so manches auch auf dem Klo. Vor kurzem hat sich ein aufstrebender Verleger gegen die Konkurrenz durchgesetzt, indem er die Preise seiner Buchdeckel, zwischen denen sich nur weiße Seiten befinden, drastisch heruntersetzte, was sie als Notizbuch und für weniger noble Zwecke äußerst nützlich macht.

Wie alle wissen, werden Bücher von akut unter Narzissmus leidenden Personen geschrieben. Vor allem, um bei Freundinnen und Freunden angeben zu können. Im Allgemeinen sind die Autoren auch die einzigen, die ein paar Bücher kaufen, um sie hier und da zu verschenken. Alle anderen werden bald wieder eingestampft und fördern damit die blühende Buchbranche. Papierhersteller, Setzer, Drucker, Umschlaggestalter, Buchbinder, Auslieferer, Spediteure, Buchhändler finden so Arbeit, und berühmte Sänger oder Fußballspieler lassen sich anstelle der tatsächlichen Autoren auf den Umschlägen der auflagenstarken Bücher nennen. (Vernachlässigen können wir hier die Verlagslektoren. Sie werden seit längerem wegen ihres starrköpfigen Engagements für zu schlaue und schwer verkäufliche Bücher durch Vertriebsleiter und Marketingexperten ersetzt, die sich ihre umfassenden Erfahrungen in der Sanitär- bzw. Tierfutterbranche erworben haben.)

Du wirst dich vielleicht fragen, unbedarfter Leser, woher denn die Gewinne kommen, mit denen die große Zahl der in diesem Business Beschäftigten entlohnt wird? Auch das ist kein Geheimnis. Das Geld gewinnt man aus dem Recycling von Altpapier. So werden die Bücher nach einer kurzen Verweildauer in den Buchhandlungen fast vollständig wieder an die Verlage zurückgegeben und dann eingestampft. Die Rückgewinnung von Papier ist nämlich ein sehr lohnendes Verfahren. Viel lohnender als die Neuherstellung. Sie verschafft neben einem gewissen Ansehen auch Subventionen, da man sich für den Erhalt von Umwelt und Wäldern einsetzt. (Dass das Papierrecycling ein äußerst umweltschädigendes Verfahren sei und dass es, vom Profit einmal abgesehen, besser wäre, Bäume zu fällen und wieder anzupflanzen, ist ein jeglicher Grundlage entbehrendes, von den üblichen erzreaktionären Feinden der neuen Technologien und der Globalisierung verbreitetes Gerücht.)

Und du, verantwortungsloser Leser, spielst bei diesem Riesenschwindel mit, bist sogar das entscheidende Werkzeug, sozusagen die raison d'être. Als sanftmütiger Mensch überkommt dich keineswegs der Drang, Papierhersteller, Setzer, Drucker, Umschlaggestalter, Buchbinder, Auslieferer, Spediteure und Buchhändler sowie berühmte Sänger oder Fußballspieler einzustampfen und zu recyceln. Du hegst solche Mordabsichten nicht, da es um deine bessere Welt geht, den Ausbruch, das verlorene Paradies, die glückliche Zuflucht vor den Widrig- und Scheußlichkeiten, die dich tagtäglich kränken und erniedrigen. Nun aber, während du mit der Lektüre deines Buches voranschreitest, du lesender Dummkopf, wird sich Zeile um Zeile etwas in dir verändern, und auch dein Körper wird sich langsam verwandeln. Deine weißlichen Wurstfinger werden beim zärtlichen Umblättern dieser Seiten nach und nach krumm und widerlich werden, deine Augen sind blutunterlaufen, ein teuflisches Grinsen entstellt dein Gesicht.

Halt, ruhig, entspann dich. Es ist nur Spaß, nicht ernst gemeint. Ich wollte dich nur ein bisschen auf den Arm nehmen. Eigentlich kann ich dich ganz gut leiden. Nur solltest du nicht alles so ernst nehmen, was du in den Büchern liest. Im Gegenteil, nimm es besser niemals Ernst. Vielleicht fragst du dich jetzt, warum du dann überhaupt etwas lesen sollst? Nun, das kann ich dir leider auch nicht sagen, du lesender Faulpelz, da musst du schon selbst draufkommen. Wie ich sehe, bist du jetzt ein wenig verstört, irritiert, und mich überkommt tatsächlich die Sorge, dass du es nicht kapierst. Aber, da ich im eigenen Interesse jetzt wieder etwas freundlicher zu dir bin - was sollte ich bloß ohne dich anfangen - werde ich schauen, ob ich dir nicht doch noch ein paar Tipps zukommen lasse, auch wenn du das sicherlich nicht verdienst, du Trottel. Zuallererst sollte dir langsam klar werden, dass man nicht liest, um Leidenschaft, Freude oder Traurigkeit, Melancholie oder Glück zu empfinden. Das wäre idiotisch, man kann das genauso wenig von einem Bild oder von Musik erwarten. Auch wenn die Leute das für gewöhnlich glauben und glückselig mit umweltschädlichem Plunder hantieren, in dem sie sich dann beruhigt und befriedigt widerspiegeln. Ein authentisches Werk (ob Buch, Bild oder Musik) dient dazu, deine Sichtweise zu verändern; die Art, wie du die Dinge und die Welt wahrnimmst, den Blick für die bislang unbekannten Seiten der Wirklichkeit zu schärfen; dich für einen Augenblick aus dem gewöhnlichen Zustand des schlafwandlerischen Roboters herauszu- holen. Dich aufzuwecken, auch wenn es nur für wenige Augenblicke ist, um dich mit dem Schwindel erregenden Rausch des Unbekannten zu umgeben, dich Ordnung und Regeln brechen zu lassen, in denen du eingezwängt und betäubt lebst. Meine Zweifel sind groß, ob du durch die Lektüre wirklich eine neue Perspektive gewinnst, verehrter Leser. Hinter der Sprache der Zeitungen und des Fernsehens, hinter der Gewalt der medialen Information, die uns fast immer eine entstellte und falsche Darstellung der Abläufe der Welt bietet, tun sich Abgründe auf. Sie zeigen auf eine verdeckte und unheimliche Wirklichkeit. Aber es genügt schon, ein paar Zeilen durcheinander zu bringen, um die Perspektive zu verschieben und sich dem Déjà-vu zu verweigern. Ich verlange gewiss nicht, dass du gegen diese normierte und abgestandene Welt protestierst und blindlings anrennst, gemeiner Leser. Andere haben das bereits getan und sind böse geendet (meine Bücher erzählen davon). Aber es wird immer welche geben, die es von neuem versuchen. Lass dich also ruhig weiterhin einlullen, träum, so viel du willst, flüchte, entfliehe, spiele unter dem blödsinnigen Lächeln der Cavalieri**, die dir überall von großen Plakatwänden herab mehr Geld und mehr Scheiße versprechen. Aber solltest du zufällig einmal in deinem Leben den plötzlichen und unwiderstehlichen Drang spüren, alles kurz und klein schlagen zu müssen, dann zögere nicht. Tu es einfach und lass der Gewalt, die du tonnenweise und jahrelang still in dich hineinfressen musstest, freien Lauf. Nimm dir einen schönen Stein und pass gut auf, dass dich niemand sieht. Hol mit ganzer Kraft aus und schmeiß ihn auf das Riesengesicht auf dem Plakat, die rote Ampel, den Vollmond, die Katze auf der Mauer oder die Bank an der Ecke.

* Englisch, Unternehmen, Internet. Die »drei I« waren ein Wahlslogan Berlusconis zur Schulpolitik.

** Pluralform von Cavaliere. Gemeint ist damit Cavaliere del lavoro (Ritter der Arbeit), der Unternehmer und jetzige italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi. (A.d.Ü.)

Den Brief an die Leser schrieb Nanni Bales-trini als Vorwort zur Neuausgabe von La violenza illustrata - Blackout, Verlag Derive

Approdi, Rom 2001. Deutsche Erstveröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlags. Aus dem Italienischen von Reinhard Sauer.

Nanni Balestrini ist Schriftsteller und lebt in Rom. Auf deutsch erscheinen im Herbst 2001 die beiden Neuauflagen Die Unsichtbaren (bei Assoziation A in Berlin) und der Roman über die Fußballfans des AC Milan

I furiosi / Die Wütenden (bei ID Verlag in Berlin). Das Staatstheater Stuttgart hat für den Spielplan im November eine Theaterfassung von I furiosi / Die Wütenden angekündigt.