Kein Wald vor lauter Sternen
tim schaffrick
Great Show!« »Come See!« »It's Brilliant!« »Don't miss it!« heißt es an jeder Ecke. Oder auf vertrauliche Art: »I'm not saying this because I get paid for it. It's REALLY good!« Auch die 25jährige Carolin aus Berlin steht auf einer Grünfläche in Edinburgh und verteilt Flugbätter. Darauf steht: »Mina, Theaterstück von Andreas Beltzer«. Carolin ist seine Produktionsassistentin.
»You must see this show !« ruft sie. Am Abend erzählen Andreas, der das Stück geschrieben und inszeniert hat, und Kirk, der Hauptdarsteller, im Pub beim Bier von den Produktionsbedingungen, dem Stress und dem Spaß einer freien Gruppe beim schottischen Theatersommer. Vier Wochen lang wird en suite gespielt, die größte Schwierigkeit ist, genügend Leute in ihr gemietetes »Venue«, ihre Spielstätte, zu locken, bisher läuft's, »naja, ganz gut «, meint Kirk.
Im Sommer bezeichnet sich Edinburgh gerne als »The Cultural Capital of the World«. Sechs Festivals bietet die schottische Hauptstadt ihren Besuchern im August: das »International Festival«, ein Buch-, ein Film-, ein Jazz & Blues- und ein Militär-Festival. Und das berühmte »Fringe«.
Das Fringe, der größte und bekannteste Theatermarkt der Welt, wächst immer weiter, seitdem 1947 Theatergruppen uneingeladen am Rand (fringe) des ersten Edinburgh International Festivals auftauchten. Damit war das Off-Theater-Spektakel geboren.
Unter den diesjährigen 666 Gruppen mit 5 000 Akteuren in mehr als 100 Spielstätten ist die Sparte Theater die größte, gefolgt von Comedy und Musik. Insgesamt konkurrieren 1 462 Aufführungen mit 499 Premieren um die Gunst des Publikums. »Das Problem des Fringe ist schlicht, dass es zu groß und zu unübersichtlich geworden ist« sagt der Schriftsteller Louis de Bernieres. »Wirklich überraschende Aufführungen sucht man wie die sprichwörtliche Nadel im Heuhaufen.«
Im Dschungel des Überangebots ist die Hilfe guter Pfadfinder unerlässlich. The Scotsman, die führende schottische Zeitung, versucht die Unübersichtlichkeit des Fringe mit einem Sternesystem zu bewältigen. Von ganz schlecht (ein Stern) bis sehr gut (vier Sterne). Fast alle anderen Publikationen legen denselben Bewertungsmaßstab an und heben damit diese Benotung in den Rang der Allgemeingültigkeit.
Eine Vier-Sterne-Auszeichnung gereicht zur Nominierung im begehrten Scotsman Fringe First-Award, aus dieser Auswahl wird dann wöchentlich eine Handvoll Fringe First Winners mit einem fünften Stern ausgezeichnet. Dies garantiert ein ausverkauftes Haus für die verbleibende Festivalzeit. Nach einigen Tagen Festspielrummel kommt nämlich kaum jemand mehr auf die Idee, sich eine Aufführung anzusehen, die nur ein bis drei Sterne ergattern konnte. Für jene Gruppen wird der Spaß dann ein herbes Verlustgeschäft. Das Fringe ist - wie das Off-Spektakel in Avignon für die französische Theaterwelt - eine Leistungsschau, ein Marktplatz, ein Barometer für die englischsprachige Kunst- und Unterhaltungsindustrie. Es herrscht freier Wettbewerb und es gibt keine Alternative zur Herrschaft der Quote. Irgendwo zwischen dem dritten und vierten Stern tut sich die Kluft zwischen leeren und hoffnungslos ausverkauften Spielstätten auf.
»Mein Geschmack ist einfach: Von allem nur das Beste!« denkt sich, wie Oscar Wilde, der von vielen Theatererlebnissen enttäuschte Zuschauer, während er misstrauisch nach den Gründen forscht, warum einer Viersterne-Show wohl der fünfte versagt blieb.
Aber auch das Top-Rating der Kritiker des Scotsman garantiert kein Aha-Erlebnis. Das David Bowie-Stückchen »From Ibiza to the Norfolk Broads« der Gruppe Tiny Dynamite & the Bull Theatre beispielsweise lässt sich allenfalls als ganz nett beschreiben, ein regelrechtes Ärgernis ist der ebenfalls fünfsternig dekorierte Cirque Surreal, der lieblos zu stupiden Techno-Beats die Nummern alleingelassener Artisten aus aller Welt aneinander reiht.
In fast allen anglo-amerikanischen Produktionen regiert indes der Sozial-Realismus. Eine ruhmreiche Ausnahme zeigt das Theatre Unlimited aus Leeds. »Neutrino«, als Ensemblearbeit entstanden, ist eine ausgeklügelte und absurd-komische Versuchsanordnung über die »kleinste Menge an Realität, die sich ein menschliches Wesen jemals vorstellen konnte«.
Aus allen Fringe First Winners-Produktionen wurde eine besonders geadelt: Der Schotte Gregory Burke, ein ehemaliger Fabrikarbeiter, holte sich mit seinem Debüt »Gagarin Way« die Auszeichnung für das beste neue Stück. Diese schwarze Komödie im Tarantino-Stil über das bei einem Raubüberfall in einer schottischen Kleinstadt entstehende Chaos wird jetzt am National Theatre in London produziert und mit Sicherheit auch bald an deutschen Stadttheatern zu sehen sein.
Auch Shan Khan, ein 30jähriger Schauspieler pakistanischer Herkunft, der in London lebt, hat gerade sein erstes Theaterstück geschrieben: »Wann geht's hoch zum Fringe? fragen meine Freunde, und ich korrigiere: Festival, ich gehe zum Festival, The Royal Scottish Edinburgh International Festival!« Shan Khan ist ein Shooting Star: »Voriges Jahr hab' ich noch beim Fringe gespielt, bin mit dem billigsten Easy-Jet-Flug in die Stadt gekommen und hab' auf dem Boden geschlafen. Dieses Jahr wurde ich von einem Festival-Repräsentanten abgeholt, der mich in ein Luxusappartment gebracht hat.«
»Office«, ein typisch britisches Gegenwartsdrama, erzählt von jugendlichen Drogendealern und vom Straßenstrich im Gangsta-Slang. Das Edinburgh International Festival hat das Stück zusammen mit dem Soho Theatre and Writers' Centre produziert, das Programmheft warnt: »This production contains strong language.«
Das International Festival ist ein sehr ansehnlicher Gemischtwarenladen. Sichtlich bemüht, für jeden Geschmack etwas dabeizuhaben, fährt man in diesem Jahr auch richtig schweres Geschütz auf: Ein ganzer Aufführungszyklus des New York City Ballet, das erste Gastspiel des Wiener Burgtheaters in Großbritannien ( »Alte Meister« und »Die Möwe«), Baryshnikovs PASTforward White Oak Dance Project, »Die Zauberflöte« und Messiaens »Saint François d'Assise«.
Mit »Hashirigaki«, was im Japanischen »fließendes Schreiben« und »rasche Fortbewegung« bezeichnet, wurde Heiner Goebbels bereits zum dritten Mal nach Edinburgh eingeladen (siehe Interview).Goebbels montiert Texte aus Gertrude Steins »The Making of Americans« zu Brian Wilsons legendärem Beach Boys-Album »Pet Sounds« und zu traditioneller japanischer Musik. Der Guardian bezeichnete diese Produktion als das Highlight des Festivals.
Goebbels stellt die menschliche Wahrnehmung in den Mittelpunkt seines Schaffens und verweigert jegliche konkrete politische Stellungnahme, die er als autoritativ und den Zuhörer entmündigend betrachtet. Seine poetischen Musiktheatercollagen haben eine kleine, aber euphorische Anhängerschaft bei den realismuserfahrenen Briten gefunden.
Einen Riesenerfolg feierte das Théâtre de Quat'Sous aus Montréal mit Novecento (Autor:Alessandro Barricho). Ein einziger, wunderbarer Schauspieler (Tom McCamus, französische Version: Pierre Lebeau) erzählt mit völliger Hingabe die Geschichte des Jazzpianisten Novecento, der sein gesamtes Leben auf einem Ozeankreuzer verbrachte. Unterstützt durch ein großartiges Klang- und Lichtdesign, transformieren Zeit und Raum und der Zuschauer findet sich verzaubert in der Welt einer »fucking good story«.
Trotz guter Produktionen hat Festivalchef Brian McMaster Probleme, die Tickets unter die Leute zu kriegen. Viele Veranstaltungen sind nur halbvoll, während das Fringe einen Verkaufsrekord vermelden konnte. Offenbar spielen die Leute gerne Perlentaucher und ziehen die kuschligen Off-Theater den viktorianischen Theaterbauten vor.
Ob beim Festival oder beim Fringe: Experimentelle, radikale, rauschhafte, »anspruchsvolle« Theaterformen lassen sich schwer verkaufen.Die Briten und Amerikaner bevorzugen die Comedy und die künstlerische Sachlichkeit. Die Gesellschaft wird abgebildet, nicht neu erfunden, selten ausgelotet. Dafür sind eher die Festlandeuropäer und der Rest der Welt zuständig.
Das World Theatre Festival »Aurora Nova« beispielsweise, von der Kommedia Brighton und der Fabrik Potsdam organisiert, wurde zwar in der Presse gefeiert, vom Publikum jedoch größtenteils ignoriert. Viel Schaubühne, kaum Volksbühne, könnte man das aus Berliner Perspektive auf einen Nenner bringen.
Das Fringe belebt den Mittelstand, Edinburghs Fremdenverkehr boomt gegen den Trend im ganzen Land. Wer sich von der Unübersichtlichkeit dieser Veranstaltung, vom schlechten Wetter und den teilweise obszönen Preisen nicht abschrecken lässt, für den lohnt sich die Sache.
»Mina«, Andreas Beltzers Produktion, war in diesem Jahr kein Erfolg beschieden. Einen Haufen Geld in den Sand gesetzt, und nur drei Sterne im »Scotsman«. Aber nächstes Jahr! Beim Abschiedsfest gab's daher auch lange Gesichter. Nur bei Kirk nicht. Den hat eine Agentur angesprochen. Fernsehen! In Manchester!
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Herr Goebbels, Ihre Arbeiten haben immer so einen »Hommage-Charakter«. Könnte man das als ein durchgehendes Arbeitsprinzip bezeichnen, dass da immer jemand gewürdigt wird?
Ich glaube, wenn meine Stücke nur diesen »Denkmalcharakter« hätten, würde sich das nicht selbst tragen. Meine Perspektive ist oft an einem starken Text orientiert, wie z.B. jetzt bei »Hashirigaki« an dem Text von Gertrude Stein. Der Charakter der Würdigung verschwindet aber vermutlich in dem Maße, in dem aus drei, vier Quellen plötzlich doch etwas Eigenes wird. Das ist zumindest mein Anspruch. Offenbar ist es doch so, dass das Material nicht das meinige sein muss, aber in der Verfahrensweise sich dann eine Handschrift durchsetzt, die man unschwer erkennt.
Ich bin aus »Hashirigaki« mit einer beschwingten Leichtigkeit rausgegangen, Brian Wilsons »I just wasn't made for these times« vor mich hinträllernd. - »A description of something, and it's very interesting« und »It makes me a little unhappy, it's always sometimes a little funny« heißt es mit Gertrude Stein in der Inszenierung. Damit wird das Thema der »Gefallstrategie« angesprochen, aber es bleibt ein Abend, der niemandem weh tut und das wohl auch nicht soll.
Ich mache meine Stücke nicht, um jemandem weh zu tun. Keines von meinen Stücken. Das interessiert mich nicht; nicht nur weil ich anerkannter Kriegsdienstverweigerer war in frühen Jahren, sondern weil ich nicht glaube, dass uns dieser altmodische pädagogische Ansatz auch nur irgendwie einen Schritt weiterbringt.
Ich denke aber sehr wohl, dass ein Theaterabend dazu da ist, eine Erfahrung zu präsentieren. Und diesen Spielraum lasse ich dem Publikum. Aber ich tue das nicht mit dem Vorsatz, das Publikum auf eine schockartige Weise zu belehren. Bei »Hashirigaki« wollte ich außerdem ein Stück machen, das genau mit dieser Kippe von nahezu depressiver amerikanischer Melancholie einerseits, andererseits aber auch mit dem Sich-Darüber-Hinwegmogeln spielt.
Als Jimi Hendrix »I don't live today. Maybe tomorrow - I just can't say« sang, entbehrte das jeglicher Larmoyanz. Wenn Sie aber heutzutage Ihrem Publikum »I just wasn't made for these times« auf den Weg geben, empfinde ich diese Melancholie als Feigheit.
Das mag für diesen Song - oder überhaupt für die Selbststilisierung von Melancholie - zutreffen. Aber der wird ja durchaus mit einem dieser Feigheit völlig widersprechenden Augenzwinkern von drei gut gelaunten Frauen gesungen.
Wir erleben den Triumphzug des Wirtschaftsliberalismus mit zunehmend faschistoiden Tendenzen. Erfordert diese Zeit nicht mal einen künstlerischen Aufschrei? Kann man da einfach sagen: »I just wasn't made for these times«?
Meinen Sie, dass ich das tue? Was mich an dem Abend interessiert, ist, den Zuschauer zu bitten, sich mit einem Zustand auseinanderzusetzen, der schätzungsweise 20 Zentimeter über dem Erdboden stattfindet. »Hashirigaki« hat etwas Extraterrestrisches. »The carpet on the floor makes it a great difference«, heißt es irgendwo in einer Szene. Das ganze Stück spielt für mich wie in einem Luftballon, und möglicherweise geht man dann raus und piekst anschließend da rein. Das gehört dann aber auch mit dazu.
Die Erfahrung, die Sie beschreiben, »das hat mich beschwingt, aber ...«, ist eine Erfahrung, die mir sehr entgegenkommt. Nach drei sehr realistischen, durchaus düsteren Stücken (»Schwarz auf Weiß«, »Max Black«, »Eislermaterial«) wollte ich überprüfen, ob ich auch etwas anderes kann. Ich will Sie nicht belehren, sondern ich will in dieser merkwürdigen, in den Bühnenhimmel wegschwebenden Glocke, in der sich das Stück befindet, versuchen, mit dem Publikum abzuheben.
Dazu gehört dann aber auch, dass man wieder auf die Straße raustritt. Und wenn Ihnen das nun klar geworden ist, dann hat der Abend auch schon einen seiner vielen Genüsse gehabt.
Diese merkwürdige, sich nicht an die konkrete Realität andockende Haltung, die schwebende Perspektive aus einer großen Entfernung, von oben betrachtend, ist ja genau der Punkt, an dem sich Gertrude Stein und die Beach Boys begegnen. Diesen schwebenden Zustand findet man sowohl in den abschweifenden repetitiven Textbewegungen als auch in der Musik, bei der der Bass nie die Grundakkorde erreicht, sondern immer die Terz spielt. Das macht das Material schon so ungreifbar, und es hat mich interessiert, das auf der Bühne zu versuchen. Und wenn Sie mit »künstlerischem Aufschrei« die Inszenierungen meinen, in denen die Figuren immer nur denunziert werden, in denen immer nur rumgebrüllt wird - ich kann sie nicht mehr sehen. Dann lieber auch mal etwas Utopisches.
Steht aber die pure Abbildung dieser »Ortlosigkeit«, dieser Zuständlichkeit und melancholischen Befindlichkeit nicht im Gegensatz zu einer künstlerischen Radikalität, zumindest einer Positionierung?
Sie können natürlich ein Stellvertretertheater aufmachen, sich hinstellen und gegen die Kälte des Neoliberalismus ein Stück schreiben, aber so funktioniert das nicht.
Also entweder schaffen wir es, in den Theatern Zustände zu inszenieren, an denen man andere Erfahrungen machen kann oder nicht. Aber wir schaffen es nicht über eine Abbildung von Gesellschaft auf der Bühne in einem deskriptiven, die Wirklichkeit beschreibenden Text.
Den hinter Ihrer Frage lauernden Vorwurf, das sei keine politische Arbeit, kann ich sehr leicht entkräften, indem ich sage: Das sollte auch gar keine sein.
Mit Joseph Fischers Reaktion auf die Vorgänge in Genua lässt die ganze Generation der arrivierten 68er die Globalisierungsgegner im Regen stehen. Ist Kunst nicht dazu da, dem Unerhörten Gehör zu verschaffen?
Also erstens teile ich, was Genua betrifft, die Position Fischers nicht, sondern sehe das schon eher wie Dany Cohn-Bendit. Aber das verhandeln wir nicht hier.
Man muss vielleicht das Unerhörte inszenieren, aber nicht expressis verbis benennen. Ich versuche, das Unerhörte in die Struktur des Abends zu bringen, und nicht in einen zu deklamierenden Text. Die »Message« interessiert mich nicht. Mich interessiert, dass etwas stattfindet zwischen dem Publikum und der Bühne. Heiner Müller obliegt das große Verdienst, darauf hingewiesen zu haben, dass es die eigene Bühnenrealität ist, die es wert ist, ernst genommen zu werden - und Gertrude Stein hat das auf ihre Weise schon 50 Jahre zuvor vehement eingefordert.
Aber bei Heiner Müller war immer die soziale Komponente, »der Brecht«, mit dabei.
Die soziale Komponente besteht ja auch darin, dass Sie aus dem Theater beschwingt herausgehen.
Sie machen nur etwa alle zwei Jahre eine Inszenierung. Kann man sich für einen solchen Zeitraum aus dem gesellschaftlichen Kampf ausklammern?
Ganz frei nach Eisler, den ich - wie Sie wissen - über alles schätze und verehre, möchte ich dazu sagen: »Wer immer nur von Politik redet, versteht auch davon nichts.«