Volle Kanüle dagegen

Die Linke sollte sich wieder auf die Kategorie des imperialistischen Interesses besinnen.

Einer der berühmtesten Sätze von Rosa Luxemburg lautet: »Die erste und einzige Pflicht des Revolutionärs ist zu sagen, was ist.« Bei diesem Satz stellt sich, auch wenn man wie ich kein Liebhaber von diskurstheoretischen Erörterungen ist, die Frage: Stimmt er, oder muss er ergänzt werden?

Das Zitat wird oft in dem Kontext benutzt, dass der Revolutionär sowieso Bescheid weiß. Wenn also Ergänzungen notwendig sind, dann muss die erste lauten: Wo agiere ich? Was ist dieses Deutschland?

Vor zwei Jahren hat Moshe Zuckermann in einem Gespräch mit Jungle World die Rede von Martin Walser in der Frankfurter Paulskirche als das Gründungsmanifest der neuen selbstbewussten Berliner Republik bezeichnet.

Doch es gab noch ein zweites Gründungsmanifest, und das reichte von dem Pogrom in Hoyerswerda bis zur Abschaffung des Asylrechts. Dieses zweite Manifest war ein Beispiel dafür, dass die Wiedererlangung der vollen Souveränität in Deutschland zu einem nationalen Coming-out geführt hat.

Das dritte Gründungsmanifest waren der Krieg und die Debatten darüber, also die Feststellung, dass man in Deutschland wieder offen über geostrategische Ambitionen reden kann und dafür Auschwitz wahlweise benutzt oder nicht braucht. Gleichzeitig gelang den Regierenden in Berlin ein ideologisches Kunststück. Wegen Auschwitz müssen wir Belgrad bombardieren, sagte Außenminister Joseph Fischer.

Als weiteres Gründungsmanifest würde ich Folgendes bezeichnen. Vor zehn Jahren wäre es noch völlig undenkbar gewesen, dass die offizielle deutsche Politik auf die Elite des Bundes der Heimatvertriebenen zukommt. Dieser Bund galt einmal als anrüchig, und heute ist er salonfähig. Joseph Fischer wäre vor zwölf Jahren nie auf die Idee gekommen, sich als Sohn von Vertriebenen bezeichnen zu lassen und nach Ungarn zu fahren, um an seine Wurzeln zu erinnern.

Ein erster kleiner Hinweis: Wer in Deutschland also überhaupt debattiert, ob den Palästinensern ein Rückkehrrecht zusteht, ohne die neue Rolle, die Deutschland heute innehat, zu reflektieren, der handelt blauäugig oder mit Kalkül. Wer über die Érblichkeit des Vertriebenenstatus in Deutschland spottet, kann dies nicht anderen Ortes zur natürlichsten Sache der Welt erklären.

Zweitens: Wer heute bemerkt, dass Deutschland eine unglaubliche Regression durchlaufen hat, muss wenigstens zur Kenntnis nehmen, wie ekelhaft die deutschen Ambitionen gegenüber Israel und dem Nahen Osten insgesamt sind. In der deutschen Presse werden sie wie folgt beschrieben: Man ist verwundert und findet es ganz unerträglich, dass die Menschen dort keinen Kompromiss finden.

Die Süddeutsche Zeitung ruft nach einem Vermittler, weil die USA versagt haben. Washington habe an Glaubwürdigkeit eingebüßt und seinen Status als unabhängiger Makler verloren. Die FAZ fragt: Können die Europäer, die bisher nur Zahlmeister des nahöstlichen Friedensprozesses sind, nicht endlich dabei helfen, dass sich Israelis und Palästinenser zum Frieden entschließen? In Bild lese ich: Kann Deutschland beim Frieden im Heiligen Land helfen? »Ja, denn wir haben ja auch hervorragende Beziehungen zu Arabern und Palästinensern - der Nahe Osten ist der Vorhof Europas. Deutschland sollte seine Zurückhaltung aufgeben und als ehrlicher Makler zum Frieden beitragen.«

Selbst wenn man intellektuell nicht sehr begnadet ist, muss einem als Erfahrung aus dem Krieg gegen Jugoslawien einleuchten, dass sie, wenn sie von Frieden reden, im Regelfall Krieg meinen.

Geostrategie ist nicht immer determiniert von Geschichte, aber wenn sich ihre ideologische Substanz auch noch mit imperialistischen Interessen paart, dann hat man als Linker in Deutschland - um mit Gerhard Scheit zu sprechen - zunächst eine Hauptaufgabe: volle Kanüle dagegen. Und nicht etwa die eines Konfliktberaters zwischen Israelis und Palästinensern.

Drittens: Wenn diese Aussage also stimmt, muss die Linke zunächst einmal - und das ist natürlich an die Rudimente der antideutschen Linken gerichtet - wieder die Kategorie des imperialistischen Interesses zulassen und nicht alles nur als Wahn erklären. D.h., sie muss den Satz zurücknehmen, dass es für den Kapitalismus keine lohnenswerten Ziele auf dieser Welt mehr gibt.

Wenn also dieser erste Gedanke richtig war, muss dieses schnöde additive »naja, das Existenzrecht für Israel räume ich ja auch ein«, aus der Debatte verschwinden. Denn wer die Walser-Rede und die Reaktion darauf in Deutschland beobachtet hat, sollte wissen, dass Antisemitismus sich in diesen kapitalistischen Verhältnissen stets reproduziert. Und dass er scharf gemacht werden kann, wenn das Staatsinteresse es verlangt.

Das bedeutet wiederum viertens: Alles ist legitim, was aus Sorge oder Angst, Israel sei bedroht, aufgezählt wird. Die Entwicklung in den arabischen Ländern, das Erstarken von Gotteskriegern, der Zulauf zum Freitagsgebet von Leuten, die damit vielleicht früher nicht viel am Hut hatten, die Transformation von säkular berechenbaren zu irrationalen fundamentalistischen Regimes, die Distanz der USA, die sich vielleicht einmal darin ausdrücken wird, dass die US-Regierung im UN-Sicherheitsrat auf ihr Veto verzichtet.

Oder die Tatsache, dass eine meiner Ansicht nach vernünftige Konzession wie der israelische Abzug aus dem Südlibanon nicht als Signal für den Friedensprozess betrachtet wurde, sondern als Zeichen für die Hisbollah, nur Stärke bringe die Israelis zur Vernunft.

All diese Entwicklungen müssen wahrgenommen und gleichzeitig muss die Hoffnung beibehalten werden, dass Moshe Zuckermann Recht hat, wenn er sagt: Der fundamentale Islamismus ist in den besetzen Gebieten oder dort, wo die Autonomiebehörde Macht hat, schwächer als in vielen arabischen Staaten. Wenn er sagt: »Die Leute wollen doch leben. Dämonisiere sie nicht. Ich habe doch, obwohl in Israel eine marginale politische Existenz, einen Beitrag zu diesem extrem schwierigen Prozess zu leisten. Und ich hoffe, dass er funktioniert. Denn alles andere hätte verheerende Konsequenzen.« Hoffentlich haben diejenigen, die das optimistisch schildern, Recht.

Fünftens: So zu denken, darf nicht heißen, eine ignorante oder gar hämische Haltung zu den palästinensischen Opfern vor Ort einzunehmen. Damit komme ich zum letzten Punkt. Die Linke in Deutschland, selbstverständlich und erst recht die radikale oder antideutsche Linke, ist selbstverständlich einflusslos. Diese Einflusslosigkeit kann zwei Haltungen zur Folge haben. Die eine lautet etwa sinngemäß nach Karl Kraus: »Es ist doch egal, welche Fehler ich zu Papier bringe. Es ist die Aufgabe meiner Leser, sie zu entdecken.«

Die gegenteilige Haltung muss lauten: Gerade hier in Deutschland macht unsere absolute Marginalität eine bestimmte Ernsthaftigkeit nötig. Aus diesem Grund kann man erstens nicht behaupten, die PLO sei die UCK. Was für ein Irrsinn, was für eine Unterminierung von Argumenten, die in vielen Jahren mühsamer Überzeugungstätigkeit verbreitet wurden. Wer links-emanzipatorisch argumentiert, klagt nicht Volksgruppenrechte ein, sondern individuelle. Diese individuellen Rechte sind aber, wenn die gleichen Autoren die Lage im Kosovo nicht geschönt haben, dort gegeben gewesen und in den Besatzungsgebieten nicht. Also was soll so ein Quatsch?

Wenn es also nicht um individuelle Rechte geht, dann ist im Baskenland, in Nordirland, in Norditalien, in Albanien, in der Türkei und im Irak alles gleich. Warum soll ich aber nicht zulassen, auch wenn ich keinen mich erfreuenden Impuls in einer nationalen Orientierung erkennen kann, dass dennoch vielleicht Menschen ganz konkretem Drangsal dadurch entfliehen können, dass die permanente Bedrohung durch die Staatsmacht nachlässt. Dann gibt es zwar immer noch genug Gemetzel, aber wenigstens ein entscheidender Faktor wäre weggefallen.

Sechstens: Man muss nicht Ariel Sharon als den Guten definieren und vor Appeasement warnen. Es wäre absurd, wenn wir Moshe Zuckermann jetzt streng prüfen, ob er nicht ein Appeasement-Politiker sei und die legitimen Sicherheitsbedürfnisse des israelischen Staates mit seiner Beschönigung der palästinensischen Wirklichkeit unterhöhle.

Vor allen Dingen aber: Es gibt einen rassistischen Konsens in Deutschland. Egal, welche Regierungskonstellation in welchem Bundesland herrscht, die Abschiebung ist überall gleich unmenschlich. Dafür haben sich das Abendland und Deutschland ein ideologisches Konstrukt geschaffen, das so lautet: Die Araber und die Asiaten sterben und leiden leichter als wir, denen macht der Tod nicht so viel aus. Wir sind ein bisschen sensibler, aber diejenigen, die wir weltweit drangsalieren, die sehen das nicht so eng. Wenn ein Konsens besteht, dass dieses Konstrukt falsch ist, dann darf auch nicht behauptet werden, den Menschen in Palästina sei ein Menschenleben nicht so wichtig, schließlich würden die Toten als Märtyrer betrachtet.

Wir sollten besser über linke westliche Rituale nachdenken - etwa im spanischen Bürgerkrieg, wo am Grab gefallenener Freiheitskämpfer folgendes Lied gesungen wurde: »Dein Tod war nicht vergebens, Du lebst in unseren Herzen fort«. Das heißt, die Akzeptanz, dass Trauern manchmal sehr krude Formen annimmt, ist besser als die latent rassistische Diffamierung von Formen des Trauerns in Palästina, wie ich das in konkret und in Bahamas zur Kenntnis nehmen musste.