Debatte um '68 und die Folgen

Die Reaktion frisst ihre Kinder

Eine große Koalition aus Publizisten, Politikern und gewendeten 68ern hält den Marsch durch die Institutionen für geglückt. Demnach ist außerparlamentarischer Widerstand überflüssig, wenn nicht gar faschistisch.

Hat noch jemand was zu sagen? Klaus Hartung vielleicht, Christian Semler, Thomas Schmid, Götz Aly, Antje Vollmer oder gar Jürgen Trittin? Ach ja, nicht zu vergessen Biermann, Wolf, Liedermacher, Ex-Ossi, Dissident, anerkannter 68er, heute für die konservative Welt tätig. Dieses Blatt »sollte sich nicht mit journalistischen Steinen aus dem Springer-Glashaus an der Steinigung Joschka Fischers beteiligen«, schrieb Biermann vorige Woche. Immerhin habe vor allem Springers Bild für die Stimmung gesorgt, ohne die »der junge Nazi Bachmann wohl kaum seine drei Kugeln in den Kopf von Rudi Dutschke geschossen hätte«.

Steht nun die Welt Kopf? Nein, denn dasselbe hatte Bänkelsänger Biermann schon in den siebziger Jahren behauptet, wenn auch nicht in dem Springer-Blatt. Dagegen wäre es gelogen, Trittin zu unterstellen, der Anschlag der RAF auf Generalbundesanwalt Siegfried Buback, nach Worten des Umweltministers eines der »schlimmsten Verbrechen, das der Terrorismus in Deutschland in den siebziger Jahren begangen hat«, habe den jungen Kommunisten damals ernsthaft moralisch getroffen. War es nicht der Arbeiterkampf (AK), das Organ des Kommunistischen Bundes (KB), das nach der Entführung von Hanns-Martin Schleyer im Herbst 1977 ausführlich über die Nazi-Vergangenheit des Arbeitgeberchefs informierte? War es nicht der AK, der sich mit der lebensbedrohlichen Situation politischer Gefangener beschäftigte, für die gemeinhin der Generalbundesanwalt verantwortlich zeichnete?

Natürlich erwartet heute niemand vom Staatspolitiker Trittin, dass er die Haltung des KB-Mitglieds Trittin einnimmt. Doch während die Wandlung Biermanns zum konservativen Totalitarismuskritiker längst kalter Kaffee ist, zeigt der jüngste Auftritt des grünen Umweltministers, wie weit die aktuelle 68er-Debatte die diskursiven Vorzeichen außerparlamentarischer Politik verschoben hat. Noch 1994 hatte Trittin die Veröffentlichung des »Mescalero-Aufrufs« in einem Fernsehinterview verteidigt. Vergangene Woche ließ er nach einer zufälligen Begegnung mit Bubacks Sohn Michael ganz förmlich wissen, er habe sich den Aufsatz »nicht zu eigen gemacht«.

Doch darum war es auch nie gegangen. Zur Erinnerung: Unter dem Namen Mescalero hatte der Göttinger Student Klaus Hülbrock in einer Erklärung den Mord an Buback heftig kritisiert, die Aktion auf ihren Nutzen für linksradikale Politik befragt und dennoch seine »klammheimliche Freude« eingestanden. Weil sich zunächst eine Reihe von Intellektuellen, Prominenten und linken Gruppen wie der KB gegen die Kriminalisierung dieses Schreibens gewandt hatte, war es zu einem Politikum geworden. Die Unterstützer wollten verteidigen, was in der zugespitzten Konfrontation zwischen Militanten und Staat in den Siebzigern zunehmend wegbrach: die Möglichkeit, offen über systemantagonistische Politikansätze zu diskutieren. Oder, anders ausgedrückt: das Recht auf freie Meinungsäußerung.

Das mag heute absurd erscheinen. Doch über den Gedanken, in den Metropolen bewaffnet zu agieren, war auf dem Berliner Vietnam-Kongress im Februar 1968 und in den folgenden Jahren öffentlich gesprochen worden. Man stritt über die Frage, ob die Bombe der RAF aufs Heidelberger Hauptquartier der US-Armee tatsächlich die Napalmbomben auf Nordvietnam stoppen könne, ob nicht zuerst die deutsche Arbeiterklasse zu agitieren sei und über manches mehr.

Dass sich viele der damaligen Protagonisten längst in Frankfurter Redaktionen, Berliner Ministerien oder norditalienischen Bauernhöfen eingerichtet haben, wurde in den letzten Wochen mit penetranter Aufdringlichkeit wiedergekäut. Ob Hans-Ulrich Jörges in der Woche oder Klaus Hartung in der Zeit, jeder schmückte seine Zeilen mit einem stolzen: »Ich war dabei.« Natürlich nicht, ohne die notwendige Distanz zu betonen. Hartung im eigens angefügten Abspann »zur Klarstellung«: »Heute bin ich froh, dass aus Phrasen keine Wirklichkeit wurde.« Und Jörges: »Die verfluchte Gewalt hatte einen Kick.«

Ginge es nur noch um verquaste Formen persönlicher Vergangenheitsbewältigung, man könnte die Debatte auf das reduzieren, was sie unter dem Gesichtspunkt der Parteipolitik zweifellos ist: der klägliche Versuch einer glücklosen Opposition, sich an den Haaren anderer aus dem Sumpf zu ziehen. Leidtragende wären die Semlers, Vollmers und Fischers, die nicht mehr öffentlich in alten Zeiten kuscheln könnten. Doch während die Union an anderen peinlichen Inszenierungen scheitert, sorgen ihre politischen Gegner dafür, dass aus der Diskussion um Trittin und Fischer herausgeholt wird, was an Reaktionärem herauszuholen ist. Die Radikalität, mit der ehemalige Bewegungslinke auf ihre Geschichte losgehen, führt zu einer Bekräftigung totalitarismustheoretischer Positionen, die auch in konkreten Auseinandersetzungen auf der Straße ihre Wirkung nicht verfehlen wird.

Waren es zunächst nur Götz Aly in der Berliner Zeitung und der FAZ-Redakteur Thomas Schmid, die sich um die Gleichsetzung von nationalsozialistischer und 68er-Bewegung bemühten, so wurden diese Parallelen bald auch begeistert von anderen gezogen. »Die Nation hat eine Generaldebatte über politische Kultur, über Schuld und Sühne, über Gewalt und Totalitarismus in der deutschen Geschichte begonnen«, frohlockte Jörges in der Woche. Hartung legte in der Zeit nach: »Die fatale Korrespondenz zwischen dem revolutionären Gewalttraum und - trauma der 68er und der faschistischen Bewegung der Dreißiger Jahre« zeige sich im Verhältnis zur »real existierenden Demokratie«. Und: »Auch in der Sprache vom ðKampfÐ der ðBewegungÐ gegen das ðSystemÐ rumorte die nazistische Vergangenheit.«

Merke: Jeder Versuch, jenseits staatlich legitimierter Spielregeln ins gesellschaftliche Geschehen einzugreifen, trägt schon per se das faschistische Element in sich. Diese Grundregel entspricht zwar nicht ganz den Appellen an die Zivilgesellschaft, als es galt, Deutschlands internationales Image vor Nazischlägern zu retten. Als abrufbares Register taugt sie jedoch allemal. Die Logik legt einen erfolgreichen Marsch durch die Institutionen zu Grunde: Heute, da unsere Leute in der Regierung sitzen, hat sich linke Opposition auf die Selbstheilungskräfte des demokratischen Staats zu verlassen. Der außerparlamentarische Widerstand, wie er zu grünen Gründerzeiten noch mitgedacht worden war, wird schon in der Theorie überflüssig, wenn nicht gar - weil militant - faschistoid.

Mit solchen Argumenten werden sich AKW-Gegner- und Gegnerinnen auseinandersetzen müssen, wenn sie demnächst auf wendländischen Straßen gegen Castor-Transporte aus dem französischen La Hague demonstrieren. Wer sich nicht mit dem Atomkonsens des grünen Ministers zufrieden gibt, dem kann es einfach nur noch um Gewalt gehen, die, wie Hartung noch von damals weiß, »gewollt« und »lustvoll« betrieben wird.

Das entsprechende Spektakel haben Trittin und der grüne Parteirat vergangene Woche vorgespielt. Kaum hatte Buback jr. öffentlich von seiner unerfreulichen Begegnung mit dem Minister berichtet, instruierte das 16-köpfige grüne Führungsgremium die eigene Gemeinde in Sachen Militanz. Da jede Blockade von Castor-Transporten »den Zeitpunkt der Stilllegung von Atomanlagen nach hinten« verschiebe, legte man der Basis nahe, sich nicht an solchen Aktionen zu beteiligen. »Wir rufen unsere Kreis- und Ortsverbände auf«, heißt es in dem Beschluss, »nur Demonstrationen zu unterstützen, die sich dafür einsetzen, dass der Atomausstieg unter höchstmöglicher Sicherheit erfolgt.« Wer dennoch an Blockaden gegen die Atompolitik festhält, ist für den Umweltminister »bescheuert«, denn die Gründe für die bisherigen Demonstrationen seien mittlerweile entfallen.

Da Trittin selbst weiß, dass dem nicht so ist, hat er noch rechtzeitig vor den baden-württembergischen Landtagswahlen Ende März den Transport atomaren Mülls aus dem AKW Neckarwestheim nach Ahaus verhindert. Um Eskalationen auf der Straße zu vermeiden, hatte er schließlich selbst im Rahmen der Konsensverhandlungen dafür gesorgt, dass der Schrott künftig auf dem Kraftwerksgelände vor sich hin strahlen darf. Auf deeskalierende Vorschläge dieser Art war damals, als Trittins KB gegen das geplante AKW Brokdorf mobil machte, noch niemand gekommen.