Gurren mit Zecken

Gefährliche Orte XLII: Berlins Tauben müssen in Zukunft ohne Betreuung auskommen

Wieder eine neue Sparmaßnahme! Ende Oktober muß ein wohl weltweit einmaliges Projekt in Berlin seine Arbeit einstellen: Die "Projektgruppe Taubenbestandsregulierung" steht vor dem Aus. Die Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für immerhin vier Personen war beim Senat mit Schwerpunkt in Kreuzberg angesiedelt und wollte, gäbe es nicht diese schwarzen Löcher in den Kassen der Regierenden, eigentlich ihre Arbeit erweitern.

Die Taubenprojektgruppe war in jüngster Zeit verantwortlich für die Tauben der Stadt. Derer gibt es schätzungsweise 40 000 - also viel weniger als Menschen. Die meisten von ihnen sollen in Kreuzberg leben, was man ihnen nicht verdenken kann, aber im Prinzip sind sie nicht besonders wählerisch, sondern nisten überall dort, wo es einigermaßen gemütlich für sie ist: unter Dachvorsprüngen, auf Mauerecken, Fassadenverzierungen, Balkonen. Die pfiffigsten unter ihnen haben gar leerstehende Dachböden oder Häuser entdeckt, die sich, steht auch nur ein einziges Fenster offen, hervorragend zur Tauben-WG eignen. Dort wird dann gegurrt, gebrütet, geschlafen und geschissen - und das alles nicht zu knapp. Pro Taube fallen jährlich bis zu zwölf Kilogramm Kot an, und die Tierchen vermehren sich von Frühjahr bis Herbst pausenlos. Stadttauben werden im Alter von fünf bis sechs Monaten geschlechtsreif und können 20 Jahre alt werden.

Weltweit gibt es 305 Taubenarten. Charakteristisch für diese Vögel sind das Füttern der Jungen mit sogenannter Kropfmilch und das klatschende Zusammenschlagen der Flügel beim Abflug. Die Columbia livia (Haustaube), um deren verwilderte Nachkommen es hier geht, stammt von der usprünglich am Mittelmeer beheimateten Felsentaube ab; wir haben es also mit Migranten zu tun. Deren Einwanderungsbewegung begann bereits vor über tausend Jahren und war vom Menschen gewollt. Das Ziel der damaligen züchterischen Bemühungen galt der Fruchtbarkeit der Vögel, denn gesottene oder gebratene Täubchen galten bis in die zwanziger Jahre als Delikatesse. In Mary Hahns "Illustriertem Kochbuch" von 1926 sind noch elf unterschiedliche Taubenrezepte aufgeführt.

Doch die Tauben hatten früher noch mehr zu tun als den Speiseplan der bürgerlichen Familie zu zieren. Brieftauben z.B. waren domestizierte Tauben mit einem außergewöhnlichem Orientierungssinn, die zur Nachrichtenübermittlung eingesetzt wurden. Sie flogen täglich eine Strecke bis zu 1 000 Kilometern bei einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 60 Stundenkilometern. Darüber berichten noch alte Kinderlieder ("Kommt ein Vogel geflogen"). Auch Noah hatte Tauben ausgeschickt, um während der Sintflut zu prüfen, ob sich die Wasser verzogen haben (1. Mose, 8). Die Vögel kamen mit Ölzweigen im Schnabel zurück, was ein gutes Zeichen war. Von den Gebrüdern Grimm wurden Tauben auch zu langweiligen Hausarbeiten herangezogen - so mußten sie beispielsweise für Aschenputtel stundenlang Erbsen sortieren. In manchen Märchen und Sagen verfügen sie sogar über Zauberkräfte.

Diesem Glauben hingen bis vor kurzer Zeit auch viele Linke an, vor allem Kommunisten bzw. deren Propagandabeauftragte, wie unschwer an dem beliebten in den fünfziger Jahren von Erika Mertke komponierten Lied "Kleine weiße Friedenstaube" der Jungen Pioniere aus der DDR zu belegen ist. Zigtausende von Tauben wurden jahrzehntelang gegen ihren Willen in den Dienst des kommunistischen Weltfriedens gestellt, mußten immer wieder auf Befehl losfliegen und meist unverrichteter Dinge wieder hinter die Mauer zurückkehren. Einfühlsam hat dieses Drama bereits in den achtziger Jahren der deutsche Liedermacher Hanns Harz besungen: "Die weißen Tauben sind müde".

Nun sind sie arbeitslos geworden. Viele von ihnen werden sich mit den bereits verwilderten ehemaligen Brief- und Suppentauben vervögelt haben und nur wenigen gelang es, bis nach Rom vorzudringen, wo im Schutze des Vatikans recht angenehme Lebensbedingungen für die runtergekommenen Fluggesellen herrschen. Berlins Antwort auf die Herausforderung aus der Vogelwelt, die "Projektgruppe Taubenbestandsregulierung", läßt ahnen, wie man hierzulande mit nicht mehr benötigten Märchenwesen, Flugkörpern und Nahrungsmitteln umgeht.

Drei "Taubentürme" wurden von den jungen Menschen der Projektgruppe betreut. Taubentürme sind ökologisch wertvolle hölzerne Nistgelegenheiten, in denen die Tiere zwar Lockvögel und Futter vorfanden, andererseits aber durch fiese Tricks an ihrer Vermehrung gehindert wurden. Man tauschte ihre Eier gegen Gipseier aus und vermischte ins Futter Anti-Taubenbabypillen. Taubentürme, so eine Informationsschrift der Projektgruppe, sollen "Begegnungsstätten zwischen Mensch und Taube werden". Zwei davon stehen noch, am Stuttgarter Platz in Charlottenburg und am Fennsee in Wilmersdorf. Unbekannte Täter haben den dritten, am Blücherplatz, im Juli 1998 abgefackelt - natürlich in Kreuzberg! Ob von autonomen Tierschützern oder echten Taubenhassern, wird für immer unklar bleiben. Letztere ärgert vor allem die Taubenkacke, der sie mindestens ähnlich viel böse Zauberkraft unterstellen wie ehedem den Friedenstauben als Positivkraft untergejubelt wurde.

Man habe bis zu 30 Zentimeter hohe Kotschichten auf unbenützten Dachböden in Berlin gefunden, heißt es in einer vergriffenen, 1992 produzierten, Broschüre der Senatsverwaltung für Gesundheit, Abteilung Umweltmedizin. Es sei nicht auszuschließen, daß Tauben Krankheitserreger verbreiten könnten. Auch Tierseuchenerreger auf Zucht- und Nutzgeflügel sowie auf Vögel in Zoos könnten von Tauben übertragen werden, wie es 1984 in Liverpool geschehen sei, wo 800 000 Hühner (in 22 Hühnergroßbetrieben!) wegen einer Hühnerpestepedemie getötet werden mußten, weil verwilderte Haustauben die Futtermittelsilos im Hafen verunreinigt hätten.

Auf Nachfrage beim Veterinäramt Kreuzberg bestätigte ein Sprecher, daß es bis heute keinerlei Nachweis für die Vermutung gibt, daß Taubenzecken Überträger der gefürchteten Zeckenencephalitis seien. Allerdings sind die Parasiten nervig, denn sie können jahrelang warten und sind im Hungerstadium nicht wählerisch: Finden sie keine Taube, saugen sie auch Menschenblut und das ungefähr eine Stunde lang. Dann flitzen sie wieder in ihre Verstecke - Holzverkleidungen, Ritzen und Fugen. Man wird sie schwer los, doch wirklich gefährlich sind sie nicht. Vereinzelt können nach einem Taubenzeckenbiß allergische Reaktionen auftreten.

Auch rote Vogelmilben, die in Taubenkot vorhanden sein können, sind in der Regel für Menschen nicht von Bedeutung, wohl aber können sie sich auf Papageien, Kanarien und andere eingesperrte Käfigvögel übertragen. Richtig böse ausgehen kann allerdings der Einzelkampf von allergisch veranlagten Menschen mit getrocknetem Taubenkot. Wer auf Staub oder Federn empfindlich reagiert, sollte sich nicht an die Beseitigung dessen wagen, was die Vögel hinterlassen und darauf achten, daß die lieben Mitbewohnerinnen und -bewohner ihren Sauberkeitswahn möglichst fachgerecht ausleben. Das heißt: erst mit Wasser einsprühen, dann weggräumen. Bei großflächigeren Verschmutzungen empfiehlt es sich, den Schädlingsbekämpfer zu bestellen, um die eventuell vorhandenen Zecken nicht ins Haus zu tragen.

Tauben sind schon komische Vögel. Sie leben in Einehe, die Täuberiche füttern die Jungen (!), lieben aber auch WGs und den Rudelflug mit bis zu 250 Genossen. Und historisch gesehen, haben sie auch schon allerhand erlebt, von der Arche Noah bis zur Taubenprojektgruppe in Berlin. Im Hinterhof der Blücherstraße 37 in Kreuzberg haben die Menschen ein Netz von Dachrinne zu Dachrinne gespannt, um ihre kleine Teichidylle taubenfrei zu halten. In der Friedrichstraße ist das Gebäude des russischen Kulturzentrums ebenfalls in ein Netz eingehüllt. Und in dem Haus in Neukölln, wo ich wohne, hat letzte Woche wieder so ein Vieh ins Treppenhaus geschissen. Es hatte einen Ölzweig im Schnabel.