59. Schwidabidapbebopdu

Fortgesetzte Erzählung

Für die Zugehörigkeit zu dem kleinen Freundeskreis der schönen Schwestern Anastasia und Alma genügte eine winzige Bedingung, deren Erfüllung man daran erkannte, daß Anastasia aus heiterem Himmel sagte: "Nennen Sie mich einfach Stasi", während Alma sich ebenso grundlos Putzi nennen ließ.

Man mußte zugeben, daß der Begriff schwarzer Jazz tautologisch war, und, so gesehen, das domicile du jazz maßlos überschätzt wurde. Es lohnte nicht einmal hinzufahren, denn es waren im Grunde Weiße, die den Stil des domicile bestimmten, obwohl.

"Ich hasse es", sagte Stasi, "wie die Weißen eine Sache verkaufen, wenn sie sie erst mal entdeckt haben. Meistens passiert das sowieso ziemlich spät, und mit der Entstehung hatten sie nie was zu tun."

Und dann erzählte sie garantiert eine ihrer New Yorker Geschichten, wie sie nach '45 eine Zeit lang mit einem Ami verheiratet war und wie sie eines Tages mit Miles Davis und Charlie Parker im Taxi zu einem Gig in der 52. Straße runterfuhren, wo die berühmten Jazz-Schuppen wie das Spotlight und der Downbeat Club lagen, und wie Bird ein fried chicken aß und plötzlich sagte, Stasi sollte mal runterrutschen und seinen Schwanz lutschen.

Und wie er oben schmatzte und sie unten, Bird an seinem chicken, sie an Bird's bird, und wie Miles nicht wußte, wohin er gucken sollte in der drangvollen Enge auf der Rückbank des Taxis und seinen Kopf aus dem Fenster hielt, weil die Sache ihm peinlich war, die weiße Hure und der größte Altsaxophonist aller Zeiten, vollgepumpt mit Heroin und Whisky, der bei der ganzen Aktion an seinem Hähnchen nagte, aber Bird war eben 'ne Nummer für sich, wie Miles zu sagen pflegte.

Man mußte sich das mal vorstellen. Das domicile du jazz war damals zwischen Elbe und Rhein die höchste Instanz in allen Jazzfragen, nur die Westberliner spielten weiter einen unerträglichen Epigonen-Dixie, den sie für Musik hielten.

Und es gehörte schon eine gehörige Chuzpe dazu, ausgerechnet Stasi's Camarillo in Bad Nauheim, das nicht mal in einem Keller lag, für den Gral des Bepop zu halten und auf Leute wie Chet Baker herabzublicken, der aber auch Klassen schlechter war als Dizzy, Joe Guy oder Fat Girl, bloß weil die Eigentümerin des Camarillo mal mit zwei Negern im Taxi quer durch Manhattan in die Street gefahren war.

Stasi sagte immer die Street, wenn sie von der 52. Straße sprach, wo die ganzen Clubs lagen, wie das Onyx oder das Three Deuces, und Putzi nickte eifrig, als ob sie dabei gewesen wäre. Dabei hatte sie die ganze Zeit in ihrem Puff in Hofacker die Nachkriegswirtschaftswundergewinner unterhalten, in der Villa gegenüber der Einhornapotheke, die der Panzer 1945 halb weggerissen hatte, und für ihre Tochter Truschka und Stasis Sohn Karl-Wilhelm Jerusalem, den alle nur Icke nannten, Bratkartoffeln mit Ei und Speck und Zwiebeln gemacht.

Kurz und gut, das domicile du jazz war die Materialisierung der europäischen Vorstellung von intellektueller Musik, die gleichzeitig irrationale Elemente enthielt. Man betrat den Club, der keine hundert Meter neben der Alten Oper lag, die ebenfalls ein Trümmerberg war, als ich ihn kennenlernte, 1955, über eine Menge Trümmerberge, auf denen Unkraut wuchs, durch einen schmalen Trampelpfad, auf dem Staub lag, durch den noch die Keramikplatten eines Hausflurs schimmerten.

Von dort stieg man eine schmale Kellertreppe hinunter, bis man unerwartet in einem geräumigen Gewölbe stand, in dem meistens nur Platten liefen, aber round midnight, wenn der Keller sich langsam füllte und auch die Cracks eintrudelten, wurde oft endlos lange gejamt, und wenn nicht, dann ging man einfach in die Schildkröte am Bahnhof, wo die Boxer und Zuhälter verkehrten, und aß noch einen Topf Muscheln, bevor man im Savoy oder der Sonne von Mexiko versackte.

Das Savoy war ein Amischuppen zum Knutschen und Schwofen, wo deshalb Kansas-Swing erklang, und die Sonne eine Abfüllstation, wo immer ein Rot-Kreuz--Wagen und ein Feuerwehrauto davorstanden.

Trotzdem, einmal im Monat fuhr man nach Bad Nauheim in Stasi's Camarillo, das auch seine Reize hatte, obwohl es fast nie Lifemusik gab. Der Club war ein ebenerdiger Schuppen, den die zwei schönen Morphinistinnen mit viel Gefühl in eine ausgesprochene Plüschhölle verwandelt hatten, mit kleinen Séparées, diversem Kitsch und Schnickschnack, gedämpftem Licht und einer exzellenten Anlage, aus der, wie gesagt, nur bester Bepop ertönte.

Warum wir so oft dort hinfuhren, weiß ich nicht mehr. Ich weiß nicht mal mehr, warum ich diese Geschichte erzähle, so oft habe ich sie schon erzählt. Es ist überhaupt keine Geschichte. Sie hat keine Pointe, läuft auf nix zu und wirft uns um rund vierzig Jahre zurück, in eine Zeit also, als der Bauer noch mit Pferden ackerte und kein Innenpolitiker sich für Drogen interessierte und für Jazz erst recht nicht.

Ich vermute mal, die Geschichte gehört hierhin, weil wir lange nichts mehr gehört haben von Icke und seiner Cousine Truschka, die manchmal mit Modder ins Bett ging, Ickes Freund, und im übrigen schrieb Stefan Ripplinger mir vor einigen Monaten, ich müßte unbedingt noch mal auf Putzi und Stasi zurückkommen.

Nach Nauheim fuhr man vermutlich auch, um Truschkas Monatswechsel abzuholen und mal wieder die Familie zu besuchen. Es war jedenfalls immer recht nett, und an einen Abend erinnere ich mich besonders. Es war der Abend, an dem ich Icke wiedertraf, den ich an die fünf Jahr nicht gesehen hatte.

Wir saßen vorne, Truschka und ich, der Club war fast leer, nur im Hinterzimmer redete jemand. Biergläser wurden von Hand zu Hand gereicht und verschwanden in der Tiefe des Raumes. Ich folgte den Biergläsern und der eintönigen Stimme. An der Rückwand saß ein junger Mann, groß, verlottert und zugewachsen und redete in sich hinein, und sein Gerede erzeugte ein unbegreifliches Wir-Gefühl.

Da war er, der zu niemandem sprach, und hier waren wir, zwei Dutzend Gäste, die nicht begriffen, was er sagte. Wir verstanden jedes Wort, wußten aber nicht, was die Wörter bedeuteten. Er sagte zum Beispiel:

"Man gebiert rittlings über dem Grabe. Der Tag eine Sekunde und dann von neuem die Nacht."

Er hatte die Hände vor sich auf dem Tisch liegen und hielt sie wie ein Pianist und klimperte vor sich hin und die Tischkante war sein Klavier, auf dem er seine Rede begleitete.

Zuweilen machte er eine Pause, hob den Kopf und frug uns: "Also gehen wir? Gehen wir." Natürlich blieben alle sitzen, denn es war völlig unklar, warum wir weggehen sollten. Er begann wieder zu klimpern und zu reden, träufelte abermals Waschkörbe voll Wortblumen von poetischer Schönheit über die Menschheit, die überwiegend aus schwarzen GIs und ihren weißen Girls bestand und andächtig lauschte, und prophezeite uns schließlich:

"Es geschieht nichts. Keiner kommt, keiner geht, es ist schrecklich."

In uns keimte ein Schuldgefühl. Wir verstanden nicht, ob unsere Schuld darin bestand, daß wir schon da waren, aber er entknotete seinen Rauschebart und sprach:

"Sobald man Bescheid weiß, kann man sich gedulden. Man weiß, woran man sich halten soll. Kein Grund mehr zur Unruhe."

Wir beruhigten uns wieder, und jemand verließ den Raum. Neue Biere wurden von Hand zu Hand gereicht, und selten habe ich die Sinnlosigkeit der modernen Existenz angenehmer empfunden als in dieser Nacht in Stasi's Camarillo. Später stiegen wir auf die Tische und sangen. Noch später hörten Kirchgänger den Lärm aus der Baracke. Polizisten brachen die Tür auf, achteten nicht unserer Entschuldigungen und nahmen uns mit. Nur Icke ließen sie sitzen. Er gehörte praktisch zum Mobiliar. Und Stasi und Putzi, die in ihren ohrigen Plüschsesseln abgetaucht und fast unsichtbar waren.

Wir hörten Icke, während wir abgeführt wurden, noch reden wie einen Sprechautomat, und darüber schwebten die vierzig Finger von Erroll Garner und sangen Relaxing at Camarillo.

(Nächste Woche: "Opas Bulle ist tot")