Zwischen den Fronten

Ein Gespräch mit dem in Abwesenheit zum Tode verurteilten algerischen Journalisten Ali Ben Saad

"Hätten mich vor drei Jahren die algerischen Sicherheitskräfte verhaftet, wäre ich bestimmt umgebracht worden. Sie hätten dann die Meldung verbreitet, es wären die Islamisten gewesen und alle Welt hätte es geglaubt", so beschrieb in der vergangenen Woche der Journalist Ali Ben Saad seine damalige Situation in Algerien; mittlerweile lebt er seit zwei Jahren in Deutschland.

Der aus dem ostalgerischen Constantine stammende Ben Saad hatte es gewagt, im September 1995 auf einer von internationalen Beobachtern besuchten Wahlveranstaltung der Regierungspartei Alliance Nationale Republicaine (ANR) den früheren Geheimdienstchef und gegenwärtigen persönlichen Berater Präsident Zérouals, M. Betchine, wegen dessen dubiosen politischen und wirtschaftlichen Machenschaften zu kritisieren. Der Publizist ist davon überzeugt, daß Betchine - obwohl er kein öffentliches Amt mehr inne hat - bis heute die Fäden hinter den Kulissen des Regimes zieht. Von den Medien, den Wirtschaftsaktivitäten bis hin zur lokalen Fußballiga habe der Ex-General in Constantine alles unter seine Kontrolle gebracht und regiere nach Art der Mafia die Stadt. Niemand wage dort, die Stimme gegen ihn zu erheben - es herrsche das "Gesetz des Schweigens".

Bereits einen Tag nach der Wahlveranstaltung vom 21. September umstellte das Militär Ben Saads Haus. Nur durch Zufall entkam er seiner Inhaftierung. Er wurde des Landes verwiesen und im März 1996 wegen Diffamierung und Störung der öffentlichen Ordnung von einem Strafgerichtshof in Constantine zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt. Algeriens Richter gingen sogar noch weiter: Wegen angeblicher Mitgliedschaft in einer islamistisch-terroristischen Vereinigung erklärte ihn das Gericht am 7. Juli in Abwesenheit zum Tode.

Das Urteil stieß allgemein auf Unverständnis. War doch das ehemalige Mitglied der algerischen Parti de l'avantgarde socialiste (PAGS) in Constantine für sein demokratisches Engagement und seinen Kampf gegen die Islamisten bekannt. In einer Stellungnahme in der algerischen Tageszeitung El-Watan vom 8. Juli schrieb Ben Saad, daß er 1993 von Sicherheitskräften darüber informiert worden sei, zusammen mit sechs Schauspielern eines Theaterensembles aus Constantine auf der Todesliste der "bewaffneten islamischen Gruppen" (GIA) zu stehen. Zwei Attentatsversuchen konnte Ben Saad bisher entgehen.

Bis heute sorgt in Zeitungen wie El-Khabar, Le Matin und El-Watan das Urteil gegen den Publizisten für Schlagzeilen. Für Ben Saad wirft der Prozeß ein Schlaglicht auf die gegenwärtig willkürlichen Entscheidungsverfahren und die Unglaubwürdigkeit eines vom Staat instrumentalisierten Justizapparats. Darüber hinaus dokumentiere sein Fall ein gezieltes politisches Manöver der algerischen Sicherheitsbehörden, um den ohnehin geringen Spielraum der demokratischen Opposition weiter zu minimieren.

Beispielhaft für diesen geringen Spielraum ist die Situation in der Kabylei. Anfang des Monats waren dort wegen der Ermordung des Sängers Lounès Matoub durch die GIA und dem "Arabisierungs"-Sprachgesetz (vgl. Jungle World, Nr. 28/98) Unruhen ausgebrochen. Sowohl die kabylische Versammlung für Kultur und Demokratie (RCD) als auch die Front der Sozialistischen Kräfte (FFS) lehnen, so Ben Saad, zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine Eskalation des Konfliktes ab. Der Grund: Eine Verschärfung des Konfliktes würde der Regierung nur einen Vorwand liefern, in dieser Region militärisch zu intervenieren. Nach Ansicht Ben Saads folgt seit der Annullierung der zweiten Runde der Parlamentswahlen Anfang 1992 das Machtgefüge aus GIA, bewaffneten Milizen und rivalisierenden Offiziersclans einer eigenen widerspruchsvollen Gesetzmäßigkeit. "Was die islamistischen Akteure betrifft, so einigt sie ein sehr vages Projekt, das in Wirklichkeit von zahlreichen persönlichen und politischen Rivalitäten überlagert wird. Die Ideologie dient ihnen oft als geeignetes Instrumentarium ihrer persönlichen Ambitionen oder ihrer Patronage-Ansprüche. Es ist fast wie im Mittelalter - jeder erklärt sich selbst zum Emir. Aus diesem Grunde massakrieren sich die Islamisten auch untereinander", meint Ben Saad.

Innerhalb des islamistischen Lagers distanziere sich die AIS zwar von der GIA, die sich wegen des Terrors gegen die Zivilbevölkerung völlig diskreditiert habe. Die Unterschiede seien allerdings nicht allzu groß; man müsse bedenken, daß ehemalige Führer der FIS wie beispielsweise Mohammad Said später zu den Verantwortlichen der GIA zählten. Man könne heute zwar davon ausgehen, daß die GIA vom algerischen Geheimdienst infiltriert und manipuliert werde, trotzdem sei die Terrororganisation keineswegs ausschließlich das Produkt der Staatsmacht, wie es einige europäische Menschenrechtsaktivisten immer wieder behaupten würden. Ben Saads Position zufolge steht der Extremismus und der blindwütige Terror der GIA grundsätzlich in einem engen Zusammenhang mit der Gewaltideologie der Islamisten. Für das Regime sei wiederum das eigentliche Problem, daß kein einheitliches Machtzentrum existiere. Seit dem Ende des FLN-Regimes sei es keinem der rivalisierenden Clans gelungen, allein den Staat zu stellen. Zudem versuchten die Offiziersgruppen, die Islamisten zu instrumentalisieren, um politische Geländegewinne gegenüber ihren Konkurrenten zu machen. Deutlich sei dies im vergangenen Jahr geworden, als drei rivalisierende Clans einen Waffenstillstand mit der AIS, dem bewaffneten Arm der FIS, auszuhandeln versuchten: erstens die Führung um Sicherheitsberater Betchine, zweitens der Leiter des Geheimdienstes General Taufiq und drittens der Major der Armeeführung Lamarie.

Solange allerdings die herrschenden Eliten des maghrebinischen Rentierstaats - dank europäischer Wirtschaftshilfe und einträglicher Gewinne aus dem lukrativen Erdöl- und Erdgasgeschäft - ihre Machtpositionen auch weiterhin festigen können, sei an eine Friedenslösung nicht zu denken, befürchtet Ben Saad.

Zwar begrüßt auch er grundsätzlich das Bemühen internationaler Organisationen, zu einer Lösung des Konflikts beizutragen - wie das einer Delegation des Europaparlaments vom vergangenen Februar oder das einer Delegation der Vereinten Nationen, die sich momentan für eine zweiwöchige Missionsreise in Algerien aufhält. Jedoch rücke dabei die Frage nach möglichen Friedensverhandlungen mit den sogenannten gemäßigten Islamisten bzw. deren Integration in das politische System zu sehr in den Vordergrund.

Das Konfliktschema lasse sich nicht auf zwei Hauptakteure reduzieren. Über die Positionen der demokratisch orientierten sozialen Bewegungen des Landes würde immer wieder hinwegdiskutiert. "Der Westen sollte bedenken, daß die unabhängigen Medien, die Frauengruppen, Künstler und linken Intellektuellen in einem wie auch immer gearteten Staat mit islamischer Beteiligung ihre Interessen prinzipiell nicht wahren können." Friedensgespräche würden nur dann einen Sinn machen, wenn den sozialen Bewegungen ihre ursprüngliche politische Rolle in Algerien wieder zuteil werden würde.