Äpfel und Birnen

What's left ...

... von der Antisemitismus-Debatte? Ein Wegweiser durch den Diskussions-Dschungel

Die Geschichte dieser Zeitung beginnt mit notwendigen Abgrenzungen. Die wichtigste unter ihnen ist die gegenüber dem Antisemitismus der Linken. Die Fragen, die Daniel J. Goldhagen und andere aufwarfen, haben durch Gollwitz und ähnliche Orte noch an Brisanz gewonnen. Die traditionelle Linke hat sich als unfähig erwiesen, darauf angemessen zu reagieren. Mit "Links & Rechts, Rechts & Links" (Jungle World, Nr. 49/97) begann innerhalb und außerhalb unserer Zeitung eine teilweise hitzig geführte Debatte, an der nahezu alle wesentlichen theoretischen Fraktionen der radikalen Linken Deutschlands Anteil genommen haben. Für den Späteinsteiger hier eine kursorische Zusammenfassung des Debattenverlaufs, ohne Anspruch auf Vollständigkeit und Objektivität.

Die Diskussion setzte mit einem Paukenschlag ein: Jürgen Elsässer konstatiert in "What's left nach Gollwitz?", dem Aufmacher zu "Links & Rechts, Rechts & Links", ein vollständiges Versagen der kommunistischen Linken angesichts des Antisemitismus in Gollwitz und anderen Städten im Osten Deutschlands. "Je weiter man sich auf der politischen Skala von der Mitte nach links bewegte, um so unverschämter wurde die Unterstützung für den Antisemitismus der Dörfler." Es sei angesichts dessen "reaktionär", sich überhaupt noch "positiv auf die Linke zu beziehen". "Kommunismus müßte auch gegen die überwältigende Mehrheit der Kommunisten durchgesetzt werden." Im selben Dossier pflichten Thomas Becker und Justus Wertmüller Elsässers Auffassung bei bzw. spitzen sie noch weiter zu, während Georg Fülberth in ihrem "Abschied vom Kommunismus" nur eine "Variante des Antikommunismus" erkennen kann. Becker etwa entscheide sich, "um seine Unlust am Kommunismus zu motivieren, für Auschwitz", kommentiert Fülberth.

Auch außerhalb der Jungle World erregen Elsässers, Beckers und Wertmüllers Thesen Aufsehen. So bemerkt Jürgen Roth im Neuen Deutschland (30. Dezember 1997): "Als Chefankläger, für den er (Elsässer; d. Red.) sich hält, zieht er jedoch aus seinen Beobachtungen Schlüsse, die dem Historiker Ernst Nolte alle Ehre machen." Ähnlich Hermann L. Gremliza in konkret (Nr. 2/98): "Es war einmal ein Projekt der Rechten, Noltes und der 'Frankfurter Allgemeinen', Stalin (als Chiffre für Marx und die Linke) die Vernichtung der europäischen Juden anzuhängen. Sie sind damit nicht durchgekommen. Jetzt gibt es ein Projekt Linker und ehemaliger Linker, sich von ihrer Vergangenheit zu emanzipieren, indem sie entdecken, daß die eigentlichen Antisemiten 'die Linken' seien." In derselben Ausgabe von konkret wird das Wort von der "Goldhagen-Linken" geprägt. "Daniel J. Goldhagen hat den Holocaust als 'deutsches nationales Projekt' kenntlich gemacht. Weil er dabei ganz ohne marxistische Kategorien auskam, sind antinationale Linke nun nicht mehr sicher, ob sie auf den Marxismus oder auf Goldhagen verzichten sollen", schreiben Regina Behrendt, Werner Fleischer, Günther Jacob und Nicola Meißner. In ihrem Dossier "Goldhagen und die antinationale Linke" (Jungle World, Nr. 2/98) nehmen sie den Faden der Diskussion neu auf. Die Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus der Linken sei zwar dringend notwendig, schreiben sie, aber nicht Marx, sondern nur der "Marxismus als Weltanschauung" müsse verabschiedet werden. Dessen Anhänger glaubten, "ohne vermittelnde Kategorie (Geschichte, Politik, Psychologie etc.) auf die Wirklichkeit losgehen zu können". Am Ende soll "auch noch Auschwitz aus dem Wert abgeleitet werden", was "ein Wahnsinn ist". Behrendt et al. fordern außerdem eine Abkehr von einem deterministischen Geschichtsbild und kritisieren den Ideologiebegriff der Antinationalen: "Antisemitismus ist eben weder 'falsches Bewußtsein' noch eine essentialistische Identität, sondern entsteht durch Koppelung verschiedener Diskurse, die an ganz bestimmte Voraussetzungen gebunden sind." Diese These entfaltet die Hamburger Gruppe in einem zweiten Dossier ("Der Klang der Theorie", Jungle World, Nr. 15/98). Es geht ihr in Anlehnung an die Studien von James E. Young um die Frage, was es vor diesem Hintergrund bedeutet, über den Holocaust zu sprechen.

Die Initiative Sozialistisches Forum (ISF; Isabel Armbrust, Joachim Bruhn u.a.) antwortet auf die Thesen aus Hamburg mit einer Attacke. Die "Nutzlosigkeit Foucaults für die antinationale Linke" behauptet sie in dem Dossier "Fasten Your Seat Belts" (Nr. 7/98). In der Aufnahme dekonstruktivistischer oder poststrukturalistischer Motive durch Günther Jacob und andere will sie eine "Heideggerisierung der Linken" erkennen, mithin eine Rückkehr zur "nazistischen Philosophie", die "das Denken durch das Denken zu liquidieren und aus dem Sprechen ein Raunen zu machen" versucht habe. Foucaults "Nominalismus" sei nur ein "billiger rhetorischer Kniff", er stehe in der "sophistischen Tradition". Die "Absicht des Dekonstruktivismus" sei es, "das Denken zu beseitigen, um die Macht zu verewigen".

Der Text der Initiative empfiehlt eine erneute Beschäftigung mit Marx, Hans-Georg Backhaus und Theodor W. Adorno. Ihre Perspektive auf den Holocaust: "An den Juden vollstreckten die Mörder ihr Deutschtum. Aber indem sie es willig vollstreckten, wollten sie das Kapital und mußten es wollen: Nicht als Marionetten, sondern als selbstbewußte Besitzer ihrer selbst, als freie Demokraten ihrer Selbsterhaltung."

Gegen die Polemik des ISF setzen Alfred Schobert u.a. in "Diskurs essen Linke auf" (Nr. 11/98) eine Auseinandersetzung mit den geschmähten Theoretikern Jacques Derrida und Michel Foucault. Es gehe darum, so Schobert, "statt Ideologie aus der Klassenlage oder dem 'Kapital' abzuleiten, die ideologischen Artikulationen verschiedener Diskursstränge, Texte oder Ideologeme empirisch genau zu analysieren." Der Autor zeichnet in einem Porträt Derridas mit wenigen Strichen die Biographie des Philosophen, eines in Algier geborenen sephardischen Juden, nach, der immer wieder gegen Antisemitismus und Rassismus politisch intervenierte. Derridas Heidegger-Studien untersuchten gerade, wo sich das Denken des deutschen Philosophen und der Nazismus berühren. Thomas Seibert und Thomas Lemke nehmen gegen die Einordnung Michel Foucaults in eine nazistische Tradition Stellung und arbeiten heraus, welche Bedeutung Sophistik bzw. Relativismus für Foucaults Werk besitzen.

Unterdessen knüpfen Matthias Küntzel, Uli Krug und Jürgen Elsässer in "Sackgassen & Sonderwege" (Nr. 8/98) an anderen Punkten der Debatte an. Elsässer plädiert für eine Orientierung an der Sonderwegs-These. In Nazi-Deutschland, argumentiert er unter Berufung auf Ulrich Enderwitz, sei "eine Tendenz zum Durchbruch" gekommen, die "allen kapitalistischen Gesellschaften immanent ist. Deutschland, die verspätete Nation, war zugleich Avantgarde einer allgemeinen Barbarei." Uli Krug betont, die Umstände blieben noch erklärungsbedürftig, "die in anderen autoritären Staaten die mörderische Dialektik des fixen Kapitals daran gehindert haben, sich einen derart adäquaten Ausdruck zu schaffen, wie es Auschwitz war". Was immer diese Umstände seien, nur vom "Kommunismus" sei "ein Ende der durchs Kapital vermittelten Naturverfallenheit von Gesellschaft" zu erwarten. Nicht als Beitrag zur Debatte geschrieben, kommt Diedrich Diederichsens "Der Boden der Freundlichkeit" (Nr. 20/98) doch auf Elsässers Thesen im ersten Dossier der Reihe (Nr. 49/97) zurück: Nicht nur die "Lächerlichkeit", das "vergleichbar kleine linke Verbrechen", das einzelne Linke mit ihrer Unterstützung der Gollwitzer Antisemiten begingen, zum Anlaß eines Abschieds von der Linken zu nehmen, nehme wunder, sondern auch das Sich-verantwortlich-Fühlen für die Taten anderer Linker. In einer Replik nennt Stefan Ripplinger Diederichsens Kritik einen Versuch, den Antisemitismus der Linken zu verharmlosen (Nr. 21/98).

Nicht mit der Debatte in der Jungle World, sondern mit dem durch die Aufsätze von Norman G. Finkelstein und Ruth Bettina Birn neu entfachten Goldhagen-Streit in der Öffentlichkeit befaßt sich das Dossier "Flak-Helfer", mit Beiträgen von Wolfgang Wippermann, Fred Kautz u.a. (Nr. 21/98).

Dagegen stellt "Auschwitz und die Krise der Theorie" (Nr. 28/98) eine harsche Abrechnung sowohl mit den Ansätzen von Behrendt, Jacob u.a. als auch mit denen von Uli Krug, der Bahamas und des ISF dar. Sowohl die diskurstheoretische als auch die wertformanalytische Aufarbeitung des Holocaust und des deutschen Antisemitismus seien Formen der Abwehr. "Man läßt die Realität der Shoah nicht an sich heran", kritisiert die Autorinnen- und Autorengruppe des Buches "Goldhagen und die deutsche Linke" (Berlin 1997; Ulrike Becker, Matthias Küntzel, Klaus Thörner u.a.).