Das Ende der Aufklärung

Zolas Schriften zur Dreyfus-Affäre zeigen, daß der Antisemitismus auch vor den Linken nicht halt machte

Im vergangenen Januar löste der französische Premier Lionel Jospin im Parlament einen Sturm der Empörung aus. Der Grund lag in seinem vollmundigen Kommentar anläßlich des 100. Jahrestages von Emile Zolas Engagement für den verurteilten Hauptmann Dreyfus. Im Bemühen, das Gedenken an eine der größten Staatsaffären Frankreichs mit der eigenen Imagepflege zu verbinden, hatte er beiläufig die damalige französische Linke vom Vorwurf des Antisemitismus freigesprochen. Es ging um die Dreyfus-Affäre, die sich vor rund einem Jahrhundert in Frankreich zum Skandal ausweitete und die 3. Republik in eine politische und moralische Dauerkrise stürzte

"Der Fall Dreyfus enthält mehr als einen Justizirrtum", bemerkte 1899 Theodor Herzl in der Wochenzeitschrift Die Welt. "Er enthält den Wunsch der ungeheuren Mehrheit in Frankreich, einen Juden, und in diesem einen, alle Juden zu verdammen. Tod den Juden! heulte die Menge, als man dem Hauptmann seine Tressen vom Waffenrock riß." Vier Jahre zuvor hatte man den aus dem Elsaß stammenden, jüdischen Artilleriehauptmann Alfred Dreyfus unter dem Verdacht der Spionage für Deutschland verhaftet und in dem manipulierten Verfahren eines Kriegsgerichts zur lebenslänglichen Verbannung auf die Teufelsinsel Cayenne in Französisch-Guayana verurteilt. Daß sich dabei der Schuldspruch auf einige von führenden Generalstabsmitgliedern gefälschte Dokumente stützte, die Dreyfus mit Zustimmung des gesamten höheren Offizierskorps heimlich untergeschoben worden waren, wurde schon bald publik. Doch obwohl binnen weniger Jahre ausreichend Beweise für die Unschuld des Verurteilten vorlagen, und der Urheber der gefälschten Schriftstücke längst identifiziert werden konnte, beharrt die Rechtsprechung aus Gründen der Staatsräson und der Autorität des Militärs auf dem Fehlurteil. Tatsächlich wurde Dreyfus erst 1906 freigesprochen

Die entscheidende Wende erreichte Emile Zola, der am 13. Januar mit seinem Offenen Brief an den französischen Präsidenten unter dem Titel "J'accuse!" schlagartig die internationale Öffentlichkeit auf den ungeheuerlichen Rechtsbruch aufmerksam machte

In Alain Pagès' und Karl Ziegers jetzt auch auf Deutsch erschienenem Buch "ƒmile Zola. Die Dreyfus-Affäre" wird diese spektakuläre Intervention des Dichters in die Politik anhand von Briefen und Interviews gewürdigt und in den politisch-sozialen Kontext seiner Zeit gestellt. Dabei geht es den Autoren darum, Zolas gesamtes Engagement während der Jahre 1898 bis 1900 zu umreißen und seine Bedeutung innerhalb der Bewegung der Dreyfusards herauszuarbeiten. Die verschiedenen Stellungnahmen Zolas zu Antisemitismus, Revanchismus und den chauvinistischen Hetzkampagnen der Presse vermitteln nicht nur ein differenziertes Bild seiner Aktivität, sondern geben auch Aufschluß über die Situation der Juden zwischen Assimilation und Ausgrenzung im republikanischen Frankreich der Jahrhundertwende

"Wichtig an der Dreyfussaffäre ist nicht, daß es in Frankreich noch in der jüngeren Vergangenheit Anti-Dreyfusards gegeben hat", bemerkte Hannah Arendt in den fünfziger Jahren, "sondern daß es bereits einmal, zu einer Zeit, der die Protokolle der Weisen von Zion noch nicht vorlagen, ein ganzes Volk sich über die Frage, ob das 'geheime Rom' oder 'das geheime Juda' die Fäden in der Hand halte, die Köpfe zerbrach und einschlug." Arendt erkannte in der Dreyfus-Affäre das Ende des im 18. Jahrhundert formulierten Emanzipationsversprechens der Aufklärung. Sie beschrieb das historische Geschehen als Generalprobe und Vorgeschichte des deutschen Nationalsozialismus, dessen erste Anzeichen in ganz Europa aufzuspüren gewesen seien

In Pagès' und Ziegers Band werden die einzelnen Ereignisse im Verlauf der Affäre dokumentiert und durch eine Auswahl von Zolas Briefen um die persönlichen Etappen des populären Streiters ergänzt. Der Prozeß gegen Zola wegen Verleumdung vor einem Pariser Schwurgericht, seine Verurteilung zu einem Jahr Gefängnis, die anschließende Flucht nach England und seine Verzweiflung im Exil spiegeln sich in seiner Korrespondenz ebenso wider wie die Berichterstattung über das Geständnis der Schuldigen, die Enthüllung der gesamten Justiz-Intrige und endlich die Wiederaufnahme des Verfahrens. Zola verfolge von England aus die weitere Auseinandersetzung. Den Haß der antisemitischen Demonstranten hatte er bereits vor und nach den Gerichtsverhandlungen in Paris und Versailles zu spüren bekommen. Einen Freispruch, so lauteten einstimmig die damaligen Berichte, hätte er wohl kaum überlebt. Der Volkszorn entlud sich in den blutigen Unruhen von Lyon, Bordeaux, Rennes, Clermont-Ferrand und Marseille und führte zu antisemitischen Kundgebungen, militärischen Straßenaufmärschen und der Entstehung zahlreicher antisemitischer Organisationen

Daß Zola, dessen frühe Romane nicht frei von antisemitischen Vorurteilen sind, kein "Dreyfus-Anhänger der ersten Stunde" war, sondern erst allmählich und durch die entschiedene Haltung seiner Mitstreiter seine Position entwickelte, findet in Pagès' und Ziegers Darstellung Erwähnung. Schließlich war "J'accuse!" als journalistisches Werk und strategischer Auftakt im Kampf um die Revision des Dreyfus-Verfahrens die kollektive Tat einiger weniger bekannter französischer Schriftsteller und Gelehrter, die sich als Gruppe "Les Intellectuels" um den Herausgeber der Tageszeitung L' Aurore, Georges Clemenceau, zusammengefunden hatte

Die aktivsten unter ihnen waren Zola, Anatole France, der Dichter Bernard-Lazar und Lucien Herr, ein Bibliothekar der ƒcole Normale. Clemenceau selbst verfaßte zwischen 1897 und 1901 insgesamt 166 Artikel zur Verteidigung des Hauptmanns und führte die Kampagne in seiner Zeitung

Ihr gemeinsames Engagement gilt heute als "Geburtsstunde des Intellektuellen", und in zahlreichen Jubiläumsartikeln zu Beginn dieses Jahres wurde das Erscheinungsdatum von Zolas Protestschrift mit der Erinnerung an die aus jenen Tagen stammende Bezeichnung verknüpft. Mehr jedoch noch als der Begriff "Intellektueller" setzte sich mit der Dreyfus-Affäre das Feindbild durch, das im 20. Jahrhundert seine Potenzierung erfuhr: die Verschmelzung von Intellektuellenfeindlichkeit und Antisemitismus im völkischen Haß auf den abstrakten Geist. Das Feindbild des "jüdischen Intellektuellen" war geboren

Die demagogische Macht dieses verschwörungstheoretischen Konstrukts machte bekanntlich vor der Linken nicht halt. Und entgegen der Wunschvorstellung von Premier Jospin stand ein großer Teil der Sozialisten innerhalb und außerhalb Frankreichs keineswegs auf der Seite der Dreyfusards, sondern verhielt sich apathisch gegenüber einem Geschehen, das ausschließlich als ein Problem der Bourgeoisie deklariert wurde

Pagès' und Ziegers Edition der Schriften Zolas zum Dreyfus-Thema vermag den Hintergrund, die Atmosphäre und die Intensität der damaligen Auseinandersetzung äußerst lebendig wiederzugeben. Allerdings hätte der Darstellung etwas weniger Ehrfurcht vor dem großen Schriftsteller keineswegs geschadet

Während der Lektüre sehnt man sich gelegentlich nach Hannah Arendts respektloser Polemik gegen das "große, rhetorische und politisch inhaltslose Pathos Zolas". Und man vermißt nicht zuletzt auch ihren Scharfblick für die grundlegenden Fragestellungen, die sich im Zusammenhang mit mit jenem aufschlußreichen Kapitel europäischer Zeitgeschichte ergeben

Alain Pagès/Karl Zieger: Emile Zola. Die Dreyfus-Affäre. Haymon, Innsbruck 1998, 320 S., DM 65